Perspektiven zu Schemini Azeret / Simchat Thora 5780

 

Aus der Reihe getanzt

Aus: Die Jüdische Zeitung Nr. 38/39, 12. Tischri 5779 / 21.September 2018 / AISH

Bearbeitet und ergänzt: S. Weinmann

Es gibt eine intuitive Ordnung bei den jüdischen Feiertagen. Mit Ausnahme von einem Jom Tow, der eine Ausnahmestellung einzunehmen scheint.

Rosch Haschanah und Jom Kippur sind keine wirklichen Feiertage, aber wir können verstehen, was wir an ihnen erleben: Ein neues Jahr beginnt.

Für uns gibt es drei eigentliche Jamim Towim: Pessach, Schawuot und Sukkot. Allenfalls sind es dreieinhalb Feiertage, wenn man Schemini Azeret dazu zählt.

Aber ist dieser Tag ein eigener Jom Tow?

Einerseits handelt es sich um den achten Tag von Sukkot. Deshalb heisst er Schemini, der "achte". Andererseits ist er aufgrund fehlenden Mizwot (die sieben Tage gültig waren) ein eigenständiger Jom Tow, mit eigener Bedeutung, einem eigenen Namen (nicht mehr «Sukkot») und deshalb wird ja die Beracha von «Schehechejanu» gesprochen. Er ist so gross, dass wir uns an diesem Jom Tow mehr freuen als an jedem anderen Feiertag.

Schliesslich feiern wir auch Simchat Tora an diesem Tag. Ausserhalb von Erez Jisrael begehen wir diesen Jom Tow am zweiten Tag von Schemini Azeret, in Erez Jisrael findet alles an einem Tag statt.

Simchat Tora ist der Tag, an dem wir den jährlichen Zyklus des Tora-Lesens abschliessen und gleich wieder von neuem beginnen. Wir nehmen die Sifrej Tora aus dem Aron Hakodesch (Thora-schrein) heraus und tanzen mit ihnen.

Es ist ein ganz besonderer Tag. Welche andere religiöse Gemeinschaft tanzt mit ihrem Gesetzbuch und feiert seinen Erhalt? Aber sollte dieser Tag nicht am Schawuot gefeiert werden, dem Tag, an dem wir die Thora erhielten? Weshalb diese Freude mit der Thora  am Simchat Tora – am letzten Tag von Sukkot?

Eine geläufige Erklärung für diesen Jom Tow ist, dass es sich eigentlich um eine Fortsetzung von Jom Kippur handelt. Jom Kippur war ja der Tag, an dem Mosche Rabbejnu mit den zweiten Luchot (Tafeln) vom Berg hinunterkam. Die ersten Luchot wurden wegen den Verfehlungen des Volkes und zur Abwendung des Zornes G-ttes zerstört. Mosche Rabbejnu kam mit den ersten Luchot vom Berg Sinai hinunter und sah das Volk um das Goldene Kalb herumtanzen. Wie konnte er diese Luchot dem Volk übergeben, wenn doch auf ihnen stand, dass jeglicher Götzendienst verboten war? Deshalb zerstörte er sie.

Am Jom Kippur, 80 Tage später, kam er mit den zweiten Luchot hinunter und verkündete dem Volk, dass Haschem ihnen verziehen hatte.

Am Schemini Azeret feiern wir den Erhalt dieser zweiten Luchot. Aber warum erst dann? Warum nicht gleich nach Jom Kippur? Warum müssen wir zuerst Sukkot feiern?

Bedeutung unserer Feiertage

Vertiefen wir uns in die Gründe, welche die Tora für die Jamim Towim (Feiertage) nennt. Wären wir Landwirte in Erez Jisrael, wäre uns die Reihenfolge viel eher verständlich.

Pessach wird in der Tora als Feiertag "im Monat des Frühlings" bezeichnet. Es ist ein Jom Tow, aber die Tora schreibt nicht, dass wir an diesem Feiertag fröhlich sein sollen. Im Frühling beginnen das Getreide und die Baumfrüchte zu wachsen. Abgesehen von einigen Futterpflanzen, wie etwa die Gerste, kann noch nichts geerntet werden. Wir wissen noch nicht, was aus diesem ersten Erwachen der neuen Saat resultieren wird.

Fünfzig Tage später kommt Schawuot, von der Tora "das Erntefest" genannt. Jetzt wird der Weizen geschnitten und gebündelt. Aber er wird noch auf dem Feld gelassen, um ihn zu trocknen, bevor er eingesammelt wird. Nun schreibt uns die Tora einmal, dass die Zeit zur Freude gekommen ist.

Schliesslich, nach einem ganzen Sommer des Wachstums, der Ernte und der harten Feldarbeit, folgt Sukkot, der von der Tora "Chag HaAssif – Fest der Ernte " genannt wird. Das gesamte Getreide, alle Bodenprodukte sind geerntet und in den Scheunen gelagert worden. Jetzt können wir uns richtig freuen und deshalb fordert uns die Tora dreimal auf, dass wir uns am Sukkot freuen sollen.

Aber diese Erklärung ist nicht genügend, denn die Tora verliert ihre Geltung nicht, auch wenn wir noch nicht oder nicht mehr in Erez Jisrael wohnen. Sie gilt an allen Orten und für alle Zeiten. Wenn Sukkot die Zeit der Ernte ist, dann gilt dies auch für uns und für unsere Lebensumstände.

Die Erntezeit der Bodenprodukte ist denn auch nur ein Spiegelbild der inneren Reifezeit und Ernte der Anstrengungen des ganzen Jahres.

Haschem ist sozusagen der „Bauer“, und die Worte seiner Tora sind die Samen, die er gesät hat. Wir - das jüdische Volk - sind mit der Erde vergleichbar. Wir müssen diese Worte spriessen lassen  und sie zur Reife bringen. Die Tora wird mit Nahrung verglichen - Nahrung für den Verstand und das Herz. Die Ausführung der Worte der Tora wird mit Früchten verglichen - den Früchten all dessen, was gelernt und verinnerlicht wurde.

Entsprechend wird das jüdische Volk auch als "Erez Chefez - Land des Begehrens" bezeichnet, weil Haschem Seine Tora in unsere Herzen gepflanzt hat, und zusieht, wie seine Mizwot in uns und aus uns heraus blühen und gedeihen.

Als das jüdische Volk Ägypten verliess, erlebte es diese drei Zeitperioden: Aussaat, Wachstum und Ernte von Tora und Mizwot, jeweils in der entsprechenden Jahreszeit. Die Jahreszeiten der Welt sind eigentlich ein Spiegelbild der Jahreszeiten, die wir nach dem Auszug aus Ägypten erlebten.

Als wir Ägypten am Pessach verliessen, machten wir uns auf den Weg ins Ungewisse. Es war eine gewagte Sache, aus einem zivilisierten Land hinaus wie Ägypten, in die Wüste zu ziehen und Haschem und Seinem Diener Mosche zu vertrauen, dass alles gut kommen werde.

Aber Haschem sah, dass etwas zu wachsen begann. Es gab ein ganzes Volk, das bereit war, Ihm zu folgen. Aber es war ihnen noch nicht genau gesagt worden, was von ihnen erwartet wird.

Am Pessach ging es also um einfachen Glauben – Emuna Peschuta. Emuna ist sehr wichtig, aber genügt für sich allein nicht. Denn auch ein Dieb setzt in irgendeiner Form sein "Vertrauen" in Haschem. Bevor er zu seinem Tagewerk aufbricht, bittet auch er, dass der Allmächtige ihm helfen solle, seine ausgesuchten Opfer berauben zu können.

Deshalb folgt auf Pessach der Jom Tow von Schawuot. Wir standen am Har Sinai und riefen: "Ja, wir werden alle Deine Mizwot erfüllen! Wir alle werden Deine Tora lernen! Wir wollen Dein Volk sein!"

Eine erste Ernte war sichtbar. Aber wir befanden uns noch auf dem Feld, die Ernte war noch nicht in die Scheunen getragen worden. Das sollte am Sukkot geschehen. Wir hatten begonnen zu lernen, wir hatten begonnen die Lehren der Tora in die Tat umzusetzen und würden jetzt in absehbarer Zeit in einer von der Tora befohlenen Hütte sitzen, in der (fast) alles, was wir tun, eine Mizwa ist.

Aber so ist es nicht geschehen. Der erste grosse Moment der Begeisterung ging verloren. Wir hatten die Tora erhalten, danach aber diese Errungenschaft mit dem Tanz um das Goldene Kalb wieder verloren. Die Luchot mit den Zehn Geboten wurden zerschlagen, der Glauben und die Begeisterung, die wir beim Auszug aus Ägypten gezeigt hatten, waren verloren.

Unsere reale Welt entsprach nicht der idealen Welt.

Aber dann kam Jom Kippur.

Wie weiss man, dass zwei Gegenstände unzertrennlich miteinander verbunden sind? Wenn man vergeblich versucht, aus einem Gegenstand dauerhaft zwei getrennte Gegenstände zu machen. Wenn sie wirklich zueinander gehören, dann werden sie einander so lange suchen, bis sie wieder vereint sind.

Das geschah nach dem Egel HaSahaw (Goldene Kalb). Wir hatten uns von Haschem getrennt und abgewendet, und von allem, was wir mit Ihm vereinbart und Ihm versprochen hatten.

Aber danach stellten wir fest, dass wir nicht getrennt leben können. Am Jom Kippur fanden wir wieder zur Einheit mit Haschem zurück.

Dasselbe geschieht mit jedem von uns, der Teschuwa macht. Der Rambam (Maimonides) erklärt, weshalb jemand, der gestolpert ist, aber sich selbst aufgerichtet hat und zu Haschem zurückgekehrt ist, Ihm lieber ist als die unschuldigste, reinste Seele: "Weil er den Geschmack der Sünde gekostet und sich von ihr getrennt hat".

Mit anderen Worten, es geht nicht nur darum, dass der Sünder stärker zu kämpfen hat, um sich zu beherrschen. Es geht um viel mehr. Wer nie gesündigt hat, kann sich seiner Sache nie sicher sein. Würde er auch noch zu Haschem halten, wenn er einmal strauchelt?

Wer jedoch "die Sünde gekostet und sich von ihr getrennt hat", der zeigt die Widerstandsfähigkeit seiner Bindung zu Haschem.

In diesem Sinn ist Schemini Azeret die höchste Stufe dieser Verbindung. Er ist der Tag, an dem die ganze Energie, die ganze Arbeit, alle Errungenschaften der vorangegangenen Tage vollständig in uns absorbiert werden. An diesem Tag wird unsere ganz besondere untrennbare Verbindung mit der Tora und mit Haschem gefeiert.

„Morascha" ist nicht „Jeruscha"

Der "Schelah Hakadosch" schreibt, dass es eine Andeutung auf jeden Jom Tow in der Parascha hat, die wir zur entsprechenden Jahreszeit leinen.

An Simchat Tora leinen wir die letzte Parascha der Tora. Und dort heisst es: "Die Tora, die Mosche Rabbejnu uns befohlen hat, ist das Erbe - „Morascha" - der Gemeinschaft Ja’akows." Was bedeutet ein Erbe? Raschi schreibt: "Wir werden sie festhalten und wir werden sie nicht aufgeben."

„Morascha" ist ein sonderbares Wort. Es ist nicht einfach zu übersetzen. Es unterscheidet sich wesentlich von „Jeruscha" (Erbe). Man hat mehr Recht auf ein Objekt, das zu einem als "Morascha" gelangt, als ein Objekt, das man als „Jeruscha" bekommt.

Es bedeutet einen ewigen Anteil an einem Grundstück zu haben. Jeder Jehudi hatte einen Anteil in Erez Jisrael erhalten. Dieser Anteil konnte nicht aufgegeben werden. Spätestens im Jowel-Jahr (jedes 50. Jahr) gelangte der Boden wieder zu seinen ursprünglichen Eigentümern zurück.

Raschi will uns sagen, dass Tora eine solche Art Erbe ist. Selbst wenn Eltern und Grosseltern sich aus irgendeinem Grund von der Tora getrennt haben, können wir sie dennoch wieder in Besitz nehmen. Sie ist unser ewiges Erbe, und wir lassen sie nicht los.

Darüber freuen wir uns, darum tanzen wir mit ihr.

Quellen und Persönlichkeiten:

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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