Freizeit: Herausforderung und Verantwortung - (Rav Frand Noach 5780 – Beitrag 1)

Freizeit: Herausforderung und Verantwortung

Ergänzungen: S. Weinmann

Der Name Noach erscheint in der Parascha der vergangenen Woche [Bereschit 5:28 – 29] zum ersten Mal: „Und (Lemech) nannte ihn Noach, denn, so sprach er, dieser wird uns ruhen lassen von unserer Arbeit und vom Schmerz unserer Hände, von dem Erdboden, den der Ewige verflucht hat.“ Adam‘s Fluch bestand darin, dass der Boden wegen ihm verwünscht wurde und er im Schweisse seines Angesichts sein Brot essen musste. Das Gebet Lemechs zur Geburt seines Sohnes Noach war von der Hoffnung erfüllt, dass er Erleichterung bringen und die Schwere des Urteils ein wenig mildern werde.

Der Midrasch Tanchuma erläutert diesen Passuk folgendermassen: Wie wusste Lemech bei Noachs Geburt, dass dieser grosse Erleichterung bringen, dass er die Gesellschaft verändern und die Schwere des Fluches lindern würde? War Lemech etwa ein Prophet? Der Midrasch erklärt, dass Adam G’tt fragte, wie lange der Fluch gelten würde, nachdem er im Garten Eden von der Verwünschung erfuhr. G’tt antwortete, dass der Fluch solange gelten würde, bis ein Kind auf die Welt kommt, das bereits beschnitten ist. Noach kam beschnitten zur Welt und deshalb wusste Lemech, dass jetzt der Fluch der vergangenen zehn Generationen gelindert würde. Deshalb konnte Lemech ausrufen: „Das ist das Kind, auf das wir gewartet haben.“ Jetzt wird sich der Lauf der Welt verändern.

Der Midrasch führt weiter aus, dass die Menschen bis zur Geburt Noachs Dornen und Disteln ernteten, wenn sie Weizen säten, genauso wie der Ewige die Erde wegen Adam verwünscht hatte. Nach der Geburt Noachs kehrte die Natur wieder zu ihrem gewohnten Lauf zurück. Sie ernteten Weizen, wenn sie Weizen säten; sie ernteten Gerste, wenn sie Gerste säten. Die Natur verhielt sich, wie sie sich zu verhalten hatte. Der Midrasch sagt ferner, dass Noach den Pflug und die Hacke, sowie alle Arten von landwirtschaftlichen Geräten erfand. Bis dahin wurde die ganze Feldarbeit von Hand verrichtet. Man stelle sich vor: ein ganzes Feld mit den Fingernägeln umzupflügen! Noachs brillante Ideen revolutionierten die Weltgeschichte und retteten seine Mitmenschen von „der Arbeit und dem Schmerz unserer Hände“.

Rav Avraham Pam szl. bemerkt, dass die Welt gerade zur Zeit Noachs, als das Leben viel einfacher und die Gesellschaft wirtschaftlich weit produktiver wurde, in Dekadenz verfiel. Augenscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen harter Arbeit und der moralischen Stufe der Welt, zwischen leichtem Leben und ethischem Niedergang.

Rav Pam erinnerte sich noch an die „sweatshops“ auf der Lower East Side von Manhattan und von Williamsburg, Brooklyn. Er erinnerte sich auch genau an das Litauen der Vorkriegszeit. Die Menschen arbeiteten 12 Stunden am Tag, sechs oder sieben Tage in der Woche. Andererseits konnte man vor 60, 70 oder 80 Jahren in New York noch am Abend und in der Nacht unbedenklich auf der Strasse spazieren. Heute jedoch, mit Fünftagewoche, gleitender Arbeitszeit, weniger Arbeitsstunden und bezahlten Ferien können wir – überraschenderweise – nicht mehr in Sicherheit auf die Strasse gehen. Manchmal ist es nicht einmal mehr sicher, mit dem Auto die Strasse hinabzufahren, vom Gehen nicht zu sprechen!

Wir sind so fortschrittlich und verfügen über alle Annehmlichkeiten – und schaut, wie es um die Welt steht. Augenscheinlich gibt es nichts Unheilvolleres als eine Fülle von freier Zeit, mit der man nichts anzufangen weiss. Wenn dies eintrifft, rutscht die Welt ins Verderben. Dies geschah in den Jahren vor der Sintflut.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch macht eine ähnliche Feststellung. In den Jahren nach dem Mabul (der Sintflut) gab es eine grundlegende Veränderung.

Der Ewige spricht nach der Sintflut: „So lange die Erde sein wird, sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht nicht aufhören“ [Bereschit 8:22]. Die einfache Erklärung ist, dass es keine Wiederholung der Sintflut geben wird, in der alles aufgehört hatte.

Dagegen zitiert Rabbiner Hirsch einen Midrasch Rabba [Parscha 34] im Namen von Rabbi Jizchak: „Vor der Sintflut brauchte man nur alle vierzig Jahre einmal das Feld zu bestellen, es war ein ewiger Frühling, wie zwischen Pessach und Schawuot, die Zeiten waren sich immer gleich, es war auch auf der ganzen Welt die gleiche Temperatur, und auch die Zerklüftung des Kontinents nicht vorhanden, so dass die rascheste Kommunikation von einem Ende der Erde zum andern stattfand…“

Die hier aufgeführten Jahreszeiten werden im Midrasch ausdrücklich als eine neue, nachsintflutliche Ordnung aufgefasst. Diese Wende war bahnbrechend. Vor der Flut gab es keine Jahreszeiten. Es war das ganze Jahr hindurch Sommer.

Wieso waren Jahreszeiten notwendig? Rabbiner Hirsch erklärt, dass ein ganzjähriger Sommer der Menschheit nicht gut tut. Wenn das Leben zu leicht ist und die Menschen über zu viel Freizeit verfügen, geht es mit der Gesellschaft bergab.

Zu Noachs Lebzeiten wurde das Leben einfacher. Plötzlich hatten die Menschen viel Zeit zur Verfügung. Mit der Welt ging es bergab. Die Folge davon war die Sintflut.

Wenn wir an die Herausforderung und die Verantwortung denken, die die Freizeit für uns darstellt, sollte dies eine wichtige Lehre sein.

Quellen und Persönlichkeiten:

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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