Die Auswirkung einer negativen Umgebung: Was ging im Dialog zwischen dem Engel und Hagar wirklich vor? (Rav Frand Lech-Lecha 5781 – Beitrag 2)

Die Auswirkung einer negativen Umgebung: Was ging im Dialog zwischen dem Engel und Hagar wirklich vor?

Die folgende Beobachtung stammt von Raw Simcha Sissel Siv (1824-1898), dem "Alten von Kelm" (nicht zu verwechseln mit dem im ersten Artikel zitierten Raw Simcha Sissel Broide (1912-2000), der der Urenkel des Bruders des "Alten von Kelm" war und nach ihm benannt wurde).

Die Tora beschreibt die Geschichte von Sara und Hagar [Berejschit 16:1-13]. Sara konnte keine Kinder haben, deshalb schlug sie ihrem Mann Awraham vor, er solle Hagar heiraten. Als Hagar sah, dass sie schwanger wurde, begann sie, ihre Herrin, Sara, respektlos zu behandeln. Sara fordert von Awraham, etwas zu unternehmen, und Awraham antwortet Sara, dass sie mit Hagar tun könne, was ihr gut dünkt. Sara quälte Hagar so, dass sie ihr entlief. "Ein Mal’ach (Engel) von Haschem" findet Hagar in der Wildnis und fragt sie: "Woher kommst du und wohin gehst du?" Hagar antwortet, dass sie ihrer Herrin Sara entlaufen sei. Ein (anderer) Engel sagt ihr daraufhin, sie solle zu ihrer Herrin zurückkehren und unter ihr leiden, wie schlimm es auch sei.

Was bedeutet dieser Dialog? Raw Simcha Sissel zitiert den Seforno [ibid. 16:8]. Der Seforno gibt nähere Einzelheiten zum Gespräch zwischen Hagar und dem Engel an.: Der Mal’ach sagt zu Hagar "Woher kommst du und wohin gehst du?" – Überlege einen Moment! Von wem läufst du davon? Du läufst vom Haus Awrahams davon. Weisst du, was für ein Sechut (Verdienst) es ist, zum Haus von Awraham zu gehören? Weisst du, was für ein besserer Mensch du bist, weil du im Haus von Awraham lebst? Du befandest dich in einer Umgebung der Heiligkeit und Reinheit, und jetzt bist du auf dem Weg zu einem Ort "ausserhalb des Landes", zu schlechten und verdorbenen Menschen.

Hagar antwortet: "Ich flüchte einfach. Ich kann es nicht mehr aushalten; es ist zu schmerzhaft. Ich bin nicht auf dem Weg irgendwohin. Ich flüchte einfach vor einer unerträglichen Situation." Der Mal’ach sagt ihr: "Gehe trotzdem zurück, wie schlimm es für dich auch sei." Dies ist – laut dem Kommentar des Seforno – der Dialog zwischen dem Engel und Hagar.

Raw Simcha Sissel erklärt, dass der Dialog eine weitere Ebene hat: Hagar sagte zum Mal’ach "Du musst dich nicht um mich sorgen. Nachdem ich im Haus von Awraham gelebt habe, bin ich gegen negative Einflüsse gewappnet. Ich habe das Niveau der Heiligkeit – durch die Jahre,  die ich in Awrahams heiliger Umgebung verbracht habe – erreicht, also kann mir nichts Schlechtes geschehen – ich werde mich nicht verderben lassen."

Worauf ihr der Engel antwortete: "Hagar, du irrst dich gänzlich. Es macht keinen Unterschied, ob du viele Jahre im Haus von Awraham gelebt hast. Eine verdorbene Umgebung wird auf dich einen negativen Einfluss haben. Die gegenwärtige Umgebung eines Menschen hat immer einen Einfluss auf ihn. Heute mögen deine Weltanschauung und dein Wertsystem gerade und unverdorben sein; es kann jedoch niemand sagen, dass er abgesondert leben kann und immun ist und von seiner neuen Umgebung nicht beeinflusst werden wird."

Raw Simcha Sissel fährt fort: Der beste Beweis für dieses Phänomen ist Lot. Schau, was mit Awrahams Neffe geschah, der ihm treu von Charan nach Kena’an und dann nach Ägypten und dann wieder nach Kena’an folgte. Awraham war sein Beschützer. Awraham kümmerte sich um ihn, er zog ihn auf, er lehrte ihn, Chessed (Güte) zu tun und einen angemessenen Lebensstil zu führen. Als Lot jedoch fortlief und nach Sedom (Sodom) kam, änderte sich seine Weltanschauung und sein Wertsystem gänzlich. Laut der Erklärung von Chasal (unserer Weisen) sagte Lot [siehe Raschi Berejschit 13:11]: "Ich will weder Awraham noch seinen G-tt". Der Alter von Kelm sagt, dass Lot nie ausdrücklich diese Worte sagte. Chasal lehren uns, dass einer, der sagt: "Ich kann das Haus von Awraham verlassen und nach Sedom wohnen gehen, und es wird keinen Einfluss auf mich haben", in Wirklichkeit sagt: "Ich benötige Awraham nicht und ich benötige seinen G-tt nicht."

Kein Mensch ist geschützt vor seiner Umgebung. Menschen sind gesellige Geschöpfe. Sie werden von ihren Kollegen beeinflusst. Sie werden von ihren Nachbarn beeinflusst. Ein Mensch, der sagt: "Ich bin stark, es wird auf mich keinen Einfluss haben", ignoriert die bevorstehende Gefahr. Es wird einen Einfluss auf dich haben! Dies ist, was der Mal’ach zu Hagar sagte: "Gehe trotzdem zurück, wie schwierig es auch ist. Denn wenn du nicht zurückgehst, begibst du dich auf eine schiefe Ebene."

Sehr viele Male im Leben gehen wir Prüfungen und Versuchungen durch. Verlockungen bringen uns in Versuchung an Plätze zu gehen, die nicht in bester Umgebung sind. Wir sagen uns selbst: "Hör zu, ich kann das bewältigen. Ich bin genug stark." Falsch, jeder Mensch benötigt eine gute Umgebung.

Rav Chaskel Lewenstein sagte einst eine Erklärung auf die berühmte Mischna (Pirkej Awot 6, 9): Rabbi Jossi ben Kissma sagte: Einst ging ich auf einem Wege, als ein gewisser Mann mir entgegenkam. Er begrüsste mich und ich erwiderte seinen Gruss. Er sagte zu mir: Rabbi, von welchem Ort bist du? Ich sagte zu ihm: Ich komme von einer grossen Stadt von Gelehrten und Weisen. Er sagte zu mir: Rabbi, wärst du bereit, an unserem Orte zu wohnen? Ich würde dir Abertausende von goldenen Dinaren, Edelsteinen und Perlen geben. Ich erwiderte ihm: Sogar wenn du mir alles Silber und Gold, alle Edelsteine und Perlen der Welt geben würdest, so wohne ich doch nur an einem Orte der Tora.

Die Frage ist: Der Mensch, der Rabbi Jossi ben Kissma dieses Angebot machte, muss ein sehr reicher Mann gewesen sein. Warum zog er nicht in die Stadt von Rabbi Jossi ben Kissma? Er könnte doch seine Hunderte Millionen von Dollars nehmen und in die Stadt der grossen Weisen und Gelehrten ziehen, die ein Ort der Tora ist; und müsste sich kein Geld kosten lassen, um Rabbi Jossi in seine Stadt zu bringen? Rav Chaskel Lewenstein antwortet, dass er seinen Lebensunterhalt sicher in der Stadt verdient haben muss, in der er lebt. Er wollte wahrscheinlich seinen Lebensunterhalt nicht aufgeben, um an einen Ort der Tora zu ziehen. Der Mann sagte sich: Ich kann hier überleben, ich werde so weitermachen. Ich werde versuchen einen Rabbi hierher zu bringen. Dies ist ein Fehler. Weder Hagar noch Lot noch irgendjemand ist geschützt vor seiner Umgebung.

Dies war die Geschichte von Noach und der Flut. Wir sahen, was für eine Auswirkung eine Umgebung hat, nicht nur auf die Leute, sondern auch auf die Tiere. Chasal sagen, dass sogar die Tiere sich unangemessen verhielten. Chasal sagen, dass die Wasser der Sintflut rund 30 Zentimeter der Oberfläche der Erde – wegen dem zerstörenden Einfluss der verdorbenen Umgebung jener Zeit – wegschwemmten. Es war wie eine Giftmüllhalde. Nur die Anlage, die den Giftmüll produziert, zu entfernen, ist nicht ausreichend. Die giftige Wirkung dringt sogar in die Erde und ins Wasser ein.

Niemand ist immun vor zerstörenden Einflüssen. Dies ist die Lektion des Dialogs zwischen Hagar und dem Engel.

Quellen und Persönlichkeiten:

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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