Raw Frand zu Parschat Toldot 5774

Es gibt keine pauschalen Regeln über das Sprechen der Wahrheit

Die Geschichte von Ja'akow, Ejsaw und den „Segensprüchen“ im aktuellen Wochenabschnitt, ist eine der schwierigeren Episoden in der Thora. Jizchak möchte seinen Segen Ejsaw geben. Riwka ist aber der Ansicht, dass Ja'akow es viel eher verdient, gesegnet zu werden - und sie ermutigt Ja'akow, sich (vor seinem blinden Vater Jizchak) als Ejsaw auszugeben. Ja'akow hört auf seine Mutter und überlistet seinen Vater. Daraufhin erhält Ja'akow den Segen von Jizchak - und der Rest der Geschichte ist bekannt…

Der Talmud [Makkot 24a] enthält hierauf einen recht eigentümlichen Kommentar, der sich auf Kapitel 15 in Tehillim (Psalmen) stützt. Dieses Kapitel, das häufig bei Beerdigungen gelesen wird, listet die Eigenschaften eines Menschen auf, der „würdig ist, sich auf dem Heiligen Berge G-ttes aufzuhalten“: Jemand, der „tamim“ (in vollkommener Vollendung) wandelt, und tut, was richtig ist - und der aus seinem Herzen heraus die Wahrheit spricht; der keine üble Nachrede auf der Zunge hat; der seinem Nächsten nichts Böses getan hat, usw., usf.

Der Talmud im Traktat Makkot greift jede dieser Eigenschaften auf und bezieht sie auf spezifische Individuen in der Thora. Der Ausdruck, jemand, der „tamim“ (in vollkommener Vollendung) wandelt, bezieht sich auf unseren Patriarchen Awraham; und der Ausdruck, „der aus seinem Herzen heraus die Wahrheit spricht“, bezieht sich auf Raw Safra; der keine üble Nachrede auf der Zunge hatte wird mit unserem Stammvater Ja'akow in Verbindung gebracht. Der Talmud zieht zum Beweis Ja'akows Ausspruch an seine Mutter heran: "Vielleicht wird mein Vater mich betasten und ich werde in seinen Augen als Betrüger dastehen." [Bereschit 27:12].

Wenn man uns bitten würde, eine Quelle aus der Thora herauszusuchen, wonach ersichtlich ist, dass Ja'akow ein ehrlicher Mensch war, dann wäre das mit Sicherheit nicht unsere erste Wahl!

Wenn wir einen Beweis für die Ehrlichkeit von Ja'akow erbringen müssten, dann würden wir vermutlich am ehesten den Dialog mit Lawan auswählen, wo Ja'akow zu ihm sagt, er habe zwanzig Jahre für ihn gearbeitet und ihn kein einziges Mal betrogen: „Und Jakob ward zornig und haderte mit Lawan und sprach zu ihm: Was habe ich mißgehandelt oder gesündigt, daß du mir nachgesetzt bist? Du hast all meinen Hausrat durchwühlt. Was hast du von deinem Hausrat gefunden? Lege es hier vor meinen und deinen Brüdern nieder, daß sie zwischen uns beiden richten. Diese zwanzig Jahre bin ich bei dir gewesen, deine Schafe und Ziegen haben nicht fehlgeboren; die Widder deiner Herde habe ich nie gegessen; was die Tiere zerrissen, habe ich dir nicht heimgebracht, ich mußte es ersetzen; du fordertest es von meiner Hand, mein war das Gestohlene am Tage, mein war es in der Nacht. Am Tage verzehrte mich die Hitze und in der Nacht der Frost, und es wich der Schlaf von meinen Augen. Also habe ich diese zwanzig Jahre in deinem Hause gedient, vierzehn für deine Töchter und sechs für deine Herde, und du hast mir meinen Lohn zehnmalzehnmal verändert…“ [Bereschit 31:37-42].

Und dennoch wird gerade dieses Ereignis, wo er sich als Ejsaw verkleidet - um seinen Vater hinters Licht zu führen, von der Thora als das Paradebeispiel schlechthin auserkoren, dass Ja'akow ein Mann der Wahrheit war!

Eine zweite Beobachtung: Riwka gibt Ja'akow die Anweisung, dass es dies ist, was er zu tun habe. Sie sagt ihm, sie wisse durch g-ttliche Vorsehung, dass er das tun müsse - und sie nimmt die spirituelle Verantwortung für jegliche negativen Konsequenzen auf sich, sofern sich welche daraus ergeben könnten.

Ja'akow befolgt die Anweisungen seiner Mutter, betritt das Zelt seines blinden Vaters in Ejsaws Kleidung (die bei der Mutter aufbewahrt waren) - und gibt sich wie folgt aus: "Ich bin es, Ejsaw, Dein erstgeborenener Sohn." - Raschi formuliert diese Aussage um als: "Ich bin es (der dir das Essen bringt)! Ejsaw ist Dein erstgeborener Sohn." Rein "technisch" hat Ja'akow somit die Wahrheit gesagt, wenn seine Worte "richtig gedeutet" werden.

Warum machte Ja’akow keine völlige Falschaussage - egal, wie sie formuliert war? Er hatte die Versicherung seiner Mutter Riwka, dass ihm nichts Schlechtes zustossen würde. Warum aber dieses Spiel spielen: „Ich bin es, Ejsaw, Dein erstgeborenener Sohn.“?

Einmal hörte ich den folgenden Gedanken von Raw Kulefsky, sz“l, dem früheren Rosch Jeschiwa (Oberhaupt der Talmudschule) von „Ner Jisrael“ in Baltimore. Es heisst: „Gebe Wahrheit (hebr. Emet) an Ja’akow, Wohltätigkeit (hebr. Chessed) an Awraham.“ Es ist kein Zufall, dass die „Prüfungen", denen Ja’akow und Awraham unterzogen worden sind, mit jenen Eigenschaften zu tun hatten, in denen sie herausragten.

Awraham, das „Sinnbild“ der Wohltätigkeit, wird aufgefordert, seinen Sohn zu opfern. Es kann keine grössere Herausforderung für einen Mann der Wohltätigkeit geben, als seinen geliebten Sohn zu opfern. Der Grund dafür ist, dass Awraham dazu aufgerufen wurde, seine Eigenschaft der Wohltätigkeit zu „reinigen“. Es durfte nicht aus purer Emotion kommen - oder weil er einfach ein „netter Kerl“ war. Es musste eine „gereinigte“ Wohltat sein, um wahrhaftige „Chessed“ (Wohltätigkeit) darzustellen. Der Allmächtige lehrt Awraham, dass es Zeiten gibt, wo es notwendig ist, seinem eigenen Charakter entgegengesetzt zu wirken, damit es wahrhaftig unverfälschte und makellose Wohltätigkeit ist.

Ähnlich ist es auch mit unserem Stammvater Ja’akow. Manche Menschen können sehr ehrlich sein - einfach, weil sie in ihrem Wesen keinerlei List (bzw. Gerissenheit) besitzen. Sie sind schlechte Lügner und wenn sie einmal doch lügen, dann steht es ihnen „im Gesicht geschrieben“. Ja’akow war kein solcher Mensch. Die Thora sagt nicht „Ja’akow Tam“ - also dass Ja’akow bieder und einfältig gewesen sei. Sie sagt: „Ja’akow Isch Tam“ - was eine Indikation dafür ist, dass er ein Mensch war, der seine Arglosigkeit und Einfachheit (hebr. Temimut) anzuwenden wusste. Wenn es die Situation erforderte - wenn er es bspw. mit einem Lawan zu tun hatte, sagte er zu Lawan: „Ich bin dein Gegenstück in Sachen Listigkeit. Mich kannst du nicht so schnell übers Ohr hauen. Meine „Emet“ (Wahrheit) ist nicht von spontaner, reflexhafter Natur. Es ist Wahrheit, die „ verfeinert" und „ gefiltert" ist, um wahrhaftig „Emet“ zu sein. Manchmal erfordert es die Eigenschaft der Wahrheit von ihrem Träger, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die nicht zu 100% wahrhaftig ist. Manche Situationen erfordern es, dass selbst ein Meister der Wahrheit sich so verhalten muss, dass es nicht unmittelbar als „Wahrheit“ erscheint.

Riwka versicherte Ja’akow, dass er zum Allgemeinwohl des Volkes Israel diese Tat auszuführen hatte. Er musste seine Eigenschaft der Wahrheit „vergeistigen“ und „das Richtige“ tun. Er hörte auf sie - und wurde somit ein noch grösserer Meister der Wahrheit. Doch sie gab ihm keinen „Freifahrtschein“, sich von seiner Eigenschaft der Wahrheit loszulösen. Wenn er also nicht zu lügen hatte, dann log er auch nicht. Soweit es möglich war, beschränkte er sich nur auf „weisse Lügen“, indem er Dinge sagte, wie: „Ich bin es, Ejsaw (ist) dein Erstgeborener.“

Aus diesem Grund leitet der Talmud aus gerade diesem Ereignis ab, dass Ja’akow die Verkörperung eines Menschen war, der keine Falschheit auf seinen Lippen hatte. Er ist der wahre Mann der Wahrheit, weil er weiss, wann und wie man Wahrheit spricht - und wann man etwas sagen muss, was nicht zu 100% der Wahrheit entspricht.

Ich habe einen fantastischen Kommentar im Buch „Hejma Jenachamuni“ des Tolner Rebben von Jerusalem gelesen. Der oben erwähnte Talmud-Abschnitt erklärt, dass sich der Ausdruck in Tehillim (Psalmen), „derjenige, der Wahrheit in seinem Herzen spricht“, auf Raw Safra bezieht. Chasal (unsere Weisen) beschreiben das Ausmass, inwieweit Raw Safra ein Mann der Wahrheit war. Raw Safra war inmitten des Schema-Lesens - während dem man nicht sprechen und keine Zeichen machen darf - und hatte einen Edelstein bei sich. Ein Nichtjude sprach ihn an, während er betete, und sagte: „Das ist ein schöner Stein. Ich werde dir 1000 Dollar (im übertragenen Sinne) dafür bezahlen.“ Raw Safra antwortete nicht. Der Nichtjude nahm an, er spiele ein Spiel mit ihm, um den Preis in die Höhe zu treiben - und so bot er ihm 1500. Noch immer blieb Raw Safra schweigsam… 2000? 3000? 5000? Endlich schloss Raw Safra das Schema-Gebet ab, wandte sich an den Nichtjuden und sagte: „Für 1000 gehört er dir - für dein erstes Gebot.“ Da er in Gedanken das ursprüngliche Angebot akzeptiert hatte, gleich nachdem er es hörte, hatte er sich „in seinem Herzen“ bereits zum Verkauf zu diesem Preis verpflichtet - und er hielt sein Wort, das er im Herzen gesprochen hatte.

Der Talmud im Traktat „Chulin“ erzählt, dass Mar Sutra von Sichra nach Mechosa ging. Rawa und Raw Safra waren zur selben Zeit auf derselben Strecke unterwegs. Als sie sich in einem Aussenbezirk von Mechosa trafen, verstand Mar Sutra irrtümlich, dass Rawa und Raw Safra gekommen waren, um ihn zu begrüssen. Raw Safra korrigierte ihn sofort und sagte ihm, dass sie nicht gekommen waren, um ihn zu begrüssen, sondern dass sie sowieso (also unabhängig von ihm) stadtauswärts unterwegs waren. Rawa fragte Raw Safra: „Warum hast du das getan? Warum musstest du ihm ein schlechtes Gefühl vermitteln? Lasse ihn doch mit seiner (falschen) Annahme leben. Warum musstest du seinen Ballon zum Platzen bringen?“

Der Tolner Rebbe erklärt: „Dies ist derselbe Raw Safra aus dem Talmud-Traktat „Makkot“, der sich durch seine aussergewöhnliche „Emet“ (Wahrheit) auszeichnete. Er folgte seiner eigenen Meinung, dass man zu 100% ehrlich sein muss - auch in dem Ausmass, dass "er Wahrheit in seinem Herzen spricht“. Rawa korrigierte ihn und sagte: „Raw Safra, es gibt Zeiten, wo man nicht immer die Wahrheit sagen sollte. Manchmal ist es besser zu schweigen.“ Natürlich hatte Mar Sutra etwas gedacht, was falsch gewesen wäre. Doch das ist nicht tragisch. Es wäre sein eigener Fehler gewesen. Rawa lehrte Raw Safra, dass der Vers in Tehillim zwei Teile hat: Es gibt den Teil „er spricht Wahrheit in seinem Herzen“, aber es gibt auch den Teil „der seinem Mitmenschen nichts Schlechtes tut“. Man muss wissen, wann man die Wahrheit sagen und wann man besser schweigen sollte. Nicht immer ist es erforderlich, die Wahrheit zu sagen. Man darf einen Menschen zwar nicht betrügen, aber wenn dieser Mensch sich selbst betrügt und dabei eine falsche Annahme zu seinen Gunsten hat – und ganz besonders, wenn er dadurch, wie hier, eine grosse Freude hat – und damit keinen Schaden anrichtet, dann ist es nicht immer eine Mizwa, seinen Irrtum zu berichtigen.

Dies ist es auch, was der Talmud im Traktat „Mo’ed Katan“ [5a] sagt. Der Talmud erläutert einen Vers in Tehillim [50:23]: „ Wer mir Sündenbekenntnis opfert, ehrt (in Wahrheit) Mich dadurch, und wer darauf seinen Wandel gründet, dem werde ich die Hilfe/Erlösung G-ttes zeigen.“ Der Talmud macht hier ein Wortspiel aus „we’ssam derech“ (und der seinen Wandel gründet) und liest diesen Auszug aus dem Vers stattdessen als „we’scham derech (abwiegen, abmessen seiner Wege)“. Wer tatsächlich ein Jude von höchster Integrität sein möchte, kann die aufrichtigen (für gut zu heissenden) Eigenschaften nicht immer mit geschlossenen Augen befolgen. Man kann keine pauschalen Regeln aufstellen. Es ist nicht immer angemessen, eine bestimmte Wohltat auszuführen. Manchmal besteht die Mizwa gerade darin, die Wohltat nicht auszuführen! Und es ist nicht immer angemessen, jede harte Wahrheit auszusprechen. Man muss abwiegen („we’scham") und herausfinden, wann und auf welche Weise auch eine (sogar) positive Eigenschaft anzuwenden ist.

Wenn Euch meine Lektion heute gefallen hat, ist es gut. Wenn nicht, dann kommt bitte nicht zu mir, um es mir ins Gesicht zu sagen. Manchmal ist es besser zu schweigen, als die Wahrheit zu sagen, wenn sie wehtun könnte. Man muss nach der Devise „Scham Orchotaw“ handeln - seine Verhaltensweisen bewerten und gesunden Menschenverstand anwenden. Man sollte sich immer fragen: „Was möchte G-tt, dass ich in dieser Situation tue?“

Manchmal wird auch der sinnbildlichen Verkörperung der Wahrheit (unserem Stammvater Ja’akow) abverlangt, nicht zu 100% akkurat zu antworten. Dies war Rawas Antwort an Raw Safra. Es kann uns allen als Lektion dienen.

 

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