Eine Zeit für Kompromiss und eine Zeit, um auf seinem Standpunkt zu beharren - (Raw Frand Wajeschew 5780 – Beitrag 2)

Eine Zeit für Kompromiss und eine Zeit, um auf seinem Standpunkt zu beharren

Wir lesen von der Auseinandersetzung zwischen Josef und seinen Brüdern. Was ist von Jehuda zu halten, dessen Intervention eigentlich Josefs Leben rettete? Jehuda sprach zu seinen Brüdern: „Welchen Gewinn haben wir, wenn wir unseren Bruder umbringen und seinen Tod verheimlichen? Kommt, wir wollen ihn an die Jischma’elim (Ismaeliten) verkaufen...“ [Bereschit 37:26-27]) War Jehudas Handlung lobenswert oder haben wir sie zu missbilligen?

Der Talmud [Sanhedrin 6b] beantwortet diese Frage wie folgt: „Rabbi Meir lehrt, dass jeder, der

Jehudas Kompromiss lobt, den g’ttlichen Namen lästert.“ Jehudas Kompromiss war eine schreckliche Sache.

Der Midrasch Raba [Bereschit 38:1] im Namen von Rabbi Jochanan (wie auch Midrasch Tanchuma [Dewarim 8:1] im Namen von Rabbi Janai) lehrt etwas ähnliches: „Beginnt jemand eine Mizwa und führt sie nicht zu Ende, wird er zum Schluss Frau und Kinder beerdigen, wie wir es bei Jehuda sehen. Jehuda hätte Josef auf seinen Schultern zu seinem Vater zurücktragen sollen“. Da Jehuda nur eine halbe Sache machte, erhielt er die entsprechende Strafe, nämlich, dass er seine Kinder zu Grabe tragen musste. Weil er die Mizwa, Josef zu retten, nur halb erfüllte, war diese Strafe angemessen. Der Himmel liess es zu, dass er nur einen Teil der Erziehung seiner Kinder vollenden konnte und gestand ihm nur die Hälfte der erhofften Lebenszeit mit seiner Frau zu.

Auch ohne auf diese älteren Quellen zurückzugreifen, müssen wir versuchen zu verstehen, warum Jehudas Handlung so schlecht war. Lobt der Talmud nicht immer wieder den Kompromiss? Die erste Frage eines Richters an die Streitparteien ist immer: „Würden Sie einen Kompromiss akzeptieren?“ [Sanhedrin 6b] Hier schlug Jehuda einen Kompromiss vor. Worin bestand denn seine grosse Sünde?

Rav Avigdor Nebenzahl gibt die folgende Erklärung. In vielen Situationen ist ein Kompromiss angebracht, geht es aber um die Wahrheit, gibt es keinen Kompromiss. Als die Brüder zum Schluss kamen, dass „Josef die Todesstrafe verdient hatte“, fällten sie das Urteil in der Meinung, dass Josef den Status eines Verfolgers (Rodef) hatte, welcher nach jüdischem Recht todesschuldig ist. War ihre Annahme richtig, so hätte Josef zum Tode verurteilt werden müssen. War ihr Urteil jedoch falsch, dann verdiente es Josef auch nicht, als Sklave verkauft zu werden. Die Wahrheit war entweder auf der Seite der Brüder oder auf Josefs Seite. Es gab keinen Raum für einen Kompromiss. Aus Josefs Sicht beruhte ein Kompromiss, der ihn zum Sklaven machte, auf einer Verdrehung des Rechtes. Er plädierte auf Freispruch.

Jehuda hatte die Möglichkeit, das Richtige zu tun. Leider packte er die Gelegenheit nicht.

Wir sehen dieses Konzept sogar noch deutlicher im Midrasch Raba zum Buch Schemot [32:8]. Der Midrasch berichtet, dass die Brüder versuchten, ihren Vater zu trösten, aber er weigerte sich, Trost anzunehmen. Daraufhin beschuldigten sie Jehuda: “Hätte Jehuda uns aufgefordert, Josef nicht zu verkaufen, hätten wir auf ihn gehört, genauso wie wir auf ihn hörten, als er uns verbat, Josef zu töten.“

Jehuda war der zukünftige König. Könige sollen führen, nicht gehorsam sein. Wenn Jehuda glaubte, dass seine Brüder Josefs Charakter richtig einschätzten, dann hätte er sie in ihrem Standpunkt bestärken sollen. Glaubte er jedoch, dass sie unrecht hatten, dann gab es keinen moralisch vertretbaren Grund für einen Kompromiss. Jehuda war für das Königtum vorgesehen. Er hatte die Pflicht zu führen. Gemäss dem Midrasch bezeugten die Brüder, dass sie Jehudas Entscheid gefolgt wären.

Jehuda ging einen Kompromiss in einer Situation ein, in der er die Gelegenheit, die Fähigkeit und die Pflicht hatte, das Richtige vollkommen zu tun.

Es gibt Situationen im Leben, in denen man keinen Kompromiss eingehen darf. In Situationen hingegen, wo man einen Kompromiss machen sollte, kommt das „schlechtere Ich“ zum Vorschein und flüstert uns zu: „Lasse dich auf keinen Kompromiss ein. Beharre auf deinem Standpunkt.“ Auf der anderen Seite gibt es Situationen, in denen wir standhaft unsere Prinzipien verteidigen müssen. Hier lässt sich der schlechte Trieb vernehmen, der uns zuflüstert: „Kompromiss“.

Der Chafez Chajim organisierte einmal eine Kampagne gegen eine Gruppe von Kaufleuten in Radin, die damit begonnen hatten, ihre Geschäfte am Schabbat zu öffnen. Er besprach die Sache mit ihnen privat und sprach auch öffentlich darüber. Endlich willigten die Kaufleute ein, ihre Geschäfte am Schabbat zu schliessen. Sie erbaten nur etwas vom Chafez Chajim:“ Wir haben damit gerechnet, am Schabbat geöffnet zu haben und haben deshalb eine grössere Menge verderblicher Ware eingekauft. Wenn wir bereits die nächsten zwei Schabbatot unsere Geschäfte schliessen, werden wir einen grossen Verlust erleiden. Lassen Sie uns nur noch die nächsten zwei Wochen öffnen, um unsere zusätzliche Ware loszuwerden. Danach werden wir unsere Geschäfte am Schabbat geschlossen halten.

Der Chafez Chajim antwortete: „Meine Herren, es tut mir leid, aber der Schabbat gehört nicht mir.“ Mit anderen Worten, ich bin nicht der Eigentümer der Einrichtung „Schabbat“. Ich bin nicht ermächtigt, Ihnen in dieser Sache eine Erlaubnis zu erteilen. Der Schabbat gehört G’tt. Ich habe kein Recht, in dieser Sache einen Kompromiss einzugehen.

Hier ebenfalls: Josefs Leben stand auf dem Spiel. Jehuda hatte kein Recht, diesbezüglich einen Kompromiss einzugehen.

Es gibt im Leben Situationen, in denen ein Kompromiss notwendig ist und es gibt Situationen, in denen er unannehmbar ist. Unsere Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wann wir einen Kompromiss eingehen können und wann wir auf keinen Fall nachgeben dürfen.

Quellen und Persönlichkeiten:

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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