Gedanken zu Paraschat Wajechi 5779

Das Benschen (Segnen) der Kinder am Freitagabend

Von Raw Jisrael Miller. Aus: Die Jüdische Zeitung, Nr. 53, 13.Tewet 5759 / 1. Jan. 1999.

Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann

Oft wird die Frage gestellt: „Wenn wir unsere Söhne am Schabbat benschen, sagen wir: „Jesimcha Elokim keEfrajim wechiMenasche – G-tt lasse dich werden wie Efrajim und Menasche“. Über welche besonderen Eigenschaften verfügten Efrajim und Menasche eigentlich, um sich mehr als alle anderen Zaddikim (Frommen) als Beispiel für den elterlichen Segen zu qualifizieren?  

Natürlich erfüllen wir mit dieser Beracha den Willen unseren Vater Ja’akow’s, der sagte: „Becha jewarech Jisrael – das jüdische Volk soll seine Kinder damit segnen, dass diese wie Efrajim und Menasche sein sollen“. Ja’akow’s Worte benötigen jedoch eine Erklärung, denn wir finden keine spezifische Eigenschaft der beiden erwähnt. Was bedeutet also dieser Segen?

Raw Jakov Kaminetzky szl. schlug folgende Erklärung vor: „Efrajim und Menasche wurden in Ägypten geboren und grossgezogen, in pharaonischen Palästen und von ägyptischem Luxus  umgeben. Von Macht und Materialismus geprägt, ist es nicht einfach, unbeeindruckt zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, den zeitgemässen Trends zu folgen.

Daher erklärte Ja’akow Awinu seinen Enkeln: Die Menschen neigen dazu, ihren Vorbildern zu folgen. Ihr beide, Efrajim und Menasche, sollte daher die Vorbilder des Klall Jisrael sein.“ Becha jewarech Jisrael“ – ihr selbst verkörpert die Aristokratie und legt die Trends fest! Deshalb werden andere ihre Kinder segnen, dass sie so werden, wie ihr es seid!“.

Wir, die Nachkommen Ja’akow’s, segnen unsere Kinder weiterhin mit denselben Worten, weil wir alle zu den Mitgliedern des „Mamlechet Kohanim“ gehören wollen (Schemot 19:6), das Raschi als „Königreich von Prinzen“ übersetzt: Aristokraten also, Männer des noblen Geistes.

Wie sieht ein jüdischer Edelmann aus? Stellen wir uns den vornehmsten Jehudi des 19. Jahrhunderts vor, Sir Moses Montefiore (1784-1885). Dieser reiste von England nach Russland, um sich beim Zaren für das russische Judentum einzusetzen. Als er durch eine Stadt in Polen fuhr, rannten einige polnische Kinder ihm nach und riefen „Zhid“ (Jude). Montefiore sandte seinen Begleiter aus, um die Kinder zu ihm zu bringen und sagte ihnen: „In London rufen sie mich ‚Sir‘, ‚Lord‘ oder ‚Mayor‘. All diese Titel können jedoch nicht mit der Ehre verglichen werden, die mir zuteil kommt, wenn ihr mich einen ‚Juden‘ nennt“. Er gab jedem der Tunichtgute eine Münze und setzte seinen Weg fort.

Dies ist ein Aristokrat. „Keschoschana ben Hachochim“ [Schir Haschirim 2:2] – wie eine Rose zwischen den Dornen. Weshalb wird die Rose durch die Dornen nicht verletzt? Weil die Rose höher steht. Wer in der Masse mitschwimmt, fragt sich: „Was denkt wohl der andere?“ Ein Führer aber stellt sich die Frage: „Welches sind meine Gedanken und welche Wahl möchte ich treffen?“ Indem er eine eigenständige Entscheidung trifft, erhebt er sich über die anderen hinweg.

Ich habe die Ehre, einen jüdischen Edelmann unserer Zeit zu kennen. Es handelt sich um einen städtischen Angestellten, der anständig verdient. Nachdem er das Schul- und Jeschiwageld für seine Kinder bezahlt, kann er am Ende des Monats nicht mehr als reich bezeichnet werden. Seine Arbeitgeber gestatten ihm, die Jamim Towim (Feiertage) frei zunehmen, doch lehnt er eine Bezahlung für die versäumten Tage ab. Für Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot allein können es im Tischri mindestens sieben ganze Arbeitstage sein, an denen er nichts verdient. Zudem hat dieser Mann beschlossen, auch den Chol Hamoed (Halbfeiertag) frei zunehmen. Er verzichtet freiwillig auf Tausende von Dollar. Wir müssen ihn dafür bewundern, dass er in seinem Idealismus nicht nach einem „Hetter“ (Erleichterung) sucht. Was ich aber am meisten an ihm bewundere, ist die Tatsache, dass er ein altes Auto fährt, dem man dies auch ansieht.

Seine Nachbarn (auch die religiösen) finden: „Es ist wirklich wunderbar, Chol Hamoed frei zu nehmen. Nur, wozu so viel Geld verlieren und deswegen in solch einer Klapperkiste herumkutschieren! Was werden die Nachbarn nur denken?“ Dieser Mann aber setzt sich seine eigenen Prioritäten, nämlich diejenigen von HKB“H (Ewige). Das Ergebnis ist, dass sein Leben ihm ganz allein gehört. Er ist frei. Und wenn man wirklich frei ist, ist man reich.

Der Maschgiach einer kleinen Jeschiwa, Raw Goldschmidt, sass bei einer Hochzeit einmal. neben einem der grossen Rosche Jeschiwot der letzten Generation und stellte fest, dass dieser das Glacé, welches zum Nachtisch serviert wurde, nicht ass. Er fragte ihn, was der Grund sei. Darauf erwiderte der Rosch Jeschiwa, dass er in seiner Jugend in Russland niemals Glacé bekommen habe. Deshalb sehe er heute keinen Grund darin, damit zu beginnen.

Wir wundern uns wahrscheinlich: Weshalb sollte man sich eine neuartige Geschmacksempfindung verwehren? Da er es jedoch nie versucht hatte, verspürte er gar keinen Entzug. Ebenso wie ein Nichtraucher keinerlei Entzugserscheinungen empfinden, wenn er am Schabbat nicht raucht, fühlte der Rosch Jeschiwa nicht, dass ihm etwas fehlte, wenn er kein Glacé ass. Er war ganz einfach frei.

Wenn man wirklich frei ist und nicht alles haben muss, was der Nachbar besitzt, wer nicht alles anderen Menschen nachahmt, der ist nicht bedauernswert, sondern ganz im Gegenteil – ein Vorbild. Nehmen wir den Fall von Rabban Gamliel: Die Gemara sagt [Ketubot 8b], dass jüdische Begräbnisse zu seiner Zeit so teuer waren (wegen teuren Totengewänder), dass arme Familien die Leiche einfach liegen liessen und aus der Stadt flüchteten, bis Rabban Gamliel anordnete, dass bei seiner eigenen Beerdigung nur ein simples Totengewand benutzt werden solle. War das nicht skandalös? „Was werden nur die Leute sagen?“ Aber der Stil der Tachrichin richtet sich bis zum heutigen Tage nach Rabban Gamliels Beispiel.

Wir haben heute leider keinen Rabban Gamliel, der eine Takana (Verordnung) machen könnte, wieviel Geld für Hochzeiten ausgegeben werden darf. Ist es aber nicht traurig, dass gute Menschen das Gefühl haben, sie müssten sich für ein extravagantes Dinner verschulden? Und ist es nicht noch trauriger, dass wir wegen all dieser Spesen nicht alle Leute einladen können, mit denen wir die Simcha teilen möchten? Für eine schöne Scheibe Braten opfern wir Freunde!

Als Raw einer Schul empfand ich es als wichtig, all meine Gemeindemitglieder zur Hochzeit meiner Tochter einzuladen. Wir luden auch Freunde und Verwandte ein. Zudem liessen wir ein Inserat erscheinen, in welchem wir mitteilten, dass wir uns mit jedem Gast freuen würden, der an unserer Simcha teilnehmen wolle. Alles in allem kamen also 850 Leute. Der Empfang bestand aus einem einfachen, aber reichhaltigen Buffet, bei welchem Wegwerfgeschirr benutzt wurde. Die Leute assen, tanzten, wünschten „Maseltov“ und gingen wieder heim. Später machten wir eine kleine Se’udat Mizwa (Festessen) mit Schewa Berachot, welche nur einen Bruchteil der üblichen Kosten ausmachte.

Falls jemand der 850 Gäste unzufrieden war, so sagte er es uns zumindest nicht. Anderseits erklärten aber viele Leute, dass sie es sehr genossen hatten, nicht während vier Stunden alle möglichen Vor-, Haupt- und Nachspeisen serviert bekommen zu haben. Wer weiss, wieviel Chessed man damit tun kann, wenn man mit „freiwilliger Schlichtheit“ als gutes Beispiel vorangeht“!

Manche Jeschiwot haben eingeführt, dass bei Chatunot nur ein Einmannorchester gemietet wird. Heute gilt es in gewissen Kreisen bereits unangebracht, sich nicht an diese Richtlinie zu halten.

Dasselbe gilt auch für die Kleidung: Ist ein Jeschiwa-Bachur plötzlich kein Ben Tora (Tora-Gelehrter) mehr, wenn sein Hemd nicht weiss und sein Hut kein Borsalino ist? Es geht nicht darum, dass wir uns von jedem Vergnügen fernhalten und in Armut leben sollen. Vielmehr sollten wir stolz darauf sein, ein Volk zu sein, das im Leben nach Höherem strebt.

Leider ist das Leben für zahlreiche Leute nichts anderes als ein bedeutungsloses Spiel, in welchem man so viel Besitz wie möglich ansammelt, Spielzeug für Erwachsene. Napoleon hat das System erfunden, bei welchem Soldaten Orden und Medaillen verdienen, weil „Männer„ wie er sagte „Spielzeug gerne haben“.

Am (Volk) Jisrael tanzt jedoch nach einer anderen Geige. Der Historiker Josephus Flavius definiert die „Tanna’im“ (Mischna-Gelehrte) als Leute, welche „auf Delikatessen verzichten“. Sie assen nur einfache Kost und lebten einfach, weil sie sich auf etwas Grösseres konzentrierten. Und die Leute um sie herum akzeptierten sie deshalb.

Wenn wir selbst keine führenden Rabbanim und Rosche Jeschiwot sind, so sollten wir umso mehr nach Einfachheit streben. Die Rebbezen des Chafez Chajim szl. fragte ihn einmal: „Warum leben wir in solcher Armut, wo doch Reb Chajim Oser Grodzynski in Wilna ein anständiges Haus besitzt?“ Der Chafez Chajim erwiderte: „Reb Chajim Oser ist der „Nassi Hador“ – ein Fürst, und muss gewiss ein schönes Haus besitzen. Wir aber sind nur „poschete (einfache) Jiden“.

Ein einfacher Jehudi zu sein ist etwas, worauf man stolz sein sollte. Auf die Frage eines Gastes, der den Chafez Chajim einmal fragte, wo denn seine Möbel seien, antwortete er: „Und wo sind Ihre Möbel?“ Der Gast erwiderte überrascht: „Meine Möbel? Ich bin doch nur auf der Durchreise!“ Darauf der Chafez Chajim: „Auch ich bin nur auf der Durchreise auf dieser Welt“.

Manche Leute finden, dass es feste Richtlinien geben sollte, wieviel man für Simchot, Ferien und Zeddaka ausgeben sollte. Vielleicht handelt es sich dabei um eine Idee, die mit der Zeit noch verwirklicht werden könnte. Wichtiger aber wäre es, dass wir unseren Sinn für die alten Werte wieder wecken. Wir sollten stolz darauf sein, dass wir uns nicht von der Masse mittreiben und unter Druck setzen lassen.

Nahe der japanischen Küste gibt es zwei kleine Inseln, die nur wenige Quadratmeter messen. Nichts wächst auf den Inseln. Dennoch gibt die japanische Regierung Hunderte von Millionen Dollar aus, um zu verhindern, dass diese Inseln im Meer versinken. So lange nämlich diese beide winzigen Stücke japanisches Territorium bleiben, gelten die 200 umliegenden Seemeilen als japanisches Gewässer mit allen damit zusammenhängenden Fischerrechten und Ansprüchen auf Bodenschätze.

Im Ozean des westlichen Materialismus, dem „Jam Suf“ (Schilfmeer) unseres eigenen Mizrajim (Ägypten), könnte es scheinen, dass ein Jehudi, der versucht, den Kopf über Wasser zu halten, keinen grossen Einfluss auf seine Umgebung hat. Im geistigen Bereich aber hinterlässt er stets einen Eindruck. Wer sich, wie Efrajim und Menasche, vom falschen Prunk Mizrajims abwendet, verdient den Segen von „Becha jewarech Jisrael“. Wir können uns selbst, unseren Familien und ganz Klall Jisrael, eine Quelle für den Segen schaffen.

Quellen und Persönlichkeiten:

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