Wann gibt es eine Gelegenheit, um sich lügnerisches Denken zu Nutze zu machen? - (Rav Frand Ki Tissa 5781 – Beitrag 2)

Wann gibt es eine Gelegenheit, um sich lügnerisches Denken zu Nutze zu machen?
Es gibt einen interessanten Da’at Sekejnim mi’Ba’alej Tossafot zur Parascha dieser Woche [Schemot 32:2].
Als die Massen zu Aron hintraten und ihn aufforderten, für sie einen „Elohim (Gott), welcher uns führen wird“ zu machen, sagte er ihnen, sie sollten von ihren Frauen, Söhnen und Töchtern ihren Goldschmuck verlangen und ihm bringen. Wenn wir diesen Passuk (Vers) lesen und ihn für bare Münze nehmen, scheint uns dies eine glasklare Anklage gegen Aharon zu sein. Er scheint in tiefer Schuld für diese Sünde zu stehen. Der Da’at Sekejnim sagt uns jedoch, dass Aharon in bester Absicht handelte.
Aharon machte sich folgende Gedanken: „Wenn ich Kalew oder Nachschon in Mosche’s Abwesenheit als Führer einsetze, dann bekomme ich Probleme (von ihren Anhängern), wenn sie nachher wieder abgesetzt werden müssen. Falls ich nicht tätig werde, werden die Massen einen der ihren bestimmen. Das wäre noch schlimmer. Wer weiss, wen sie erküren werden? Dieser Mensch wäre noch weniger geneigt bei Mosche’s Rückkehr seine Macht abzutreten. Wenn ich mich selber dazu bereit erkläre, kränke ich vielleicht Mosche. Er wird dann vielleicht denken, dass ich sein Revier an mich reisse.“
Der Da’at Sekejnim erklärt, dass Aharon in dieser Zwangslage zur uralten Taktik des Verzögerns Zuflucht nahm (diesen Punkt bringt auch Raschi). „Ich werde ihnen sagen, sie sollen mir das Gold ihrer Frauen bringen.“ Aharon erwartete, dass die Männer mit einem solchen Anliegen ins Leere laufen und das Projekt wegen fehlendem Material fallen lassen würden. Es war eine brillante Taktik. Er stellte sich vor, dass die Männer und ihre Frauen wegen diesem Begehren in Streit geraten würden. Sie würden sich zusammen in einem Raum einschliessen, um über diese Sache zu diskutieren. Bis der Staub sich legt, ist Mosche schon längst zurück.
Wie wir alle wissen, kam es anders. Die Männer fanden bei den Frauen kein Gehör und brachten umgehend den eigenen Schmuck. Sicherlich können wir Aharon’s Gedankengang, vor seinem Aufruf zur Schmuck-Sammlung, viel besser nachvollziehen, wenn wir uns seine Überlegungen - nach der Erklärung des Da’at Sekejnim - vor Augen halten.
Was können wir aus der Erklärung des Da’at Sekejnim herauslernen? Wir können beobachten, wie jemand etwas tut, das ihn glasklar zum Schuldigen stempelt. Obwohl es scheint, dass überhaupt keine mildernden Umstände vorhanden sind, kann die Wahrheit eine völlig andere sein. Man weiss nie.
Rav Hutner pflegte zu sagen, dass es für jeden Charakterzug, sei er positiv oder negativ, eine Zeit und einen Ort gibt, wo man ihn gebrauchen kann. Es gibt Zeit für Wut (zumindest nach aussen hin). Es gibt Zeit für Eifersucht (gute Taten des andern). Manchmal wird erwartet, dass man wütend oder eifersüchtig ist. Rav Hutner pflegte zu fragen, was es denn mit dem Charakterzug des lügnerischen Denkens („Krumkeit“) auf sich habe. Wo ist es am Platz, lügnerisches Denken zu gebrauchen? Rav Hutner antwortete: Um einen anderen Menschen im Zweifel in günstigem Licht zu sehen, auch wenn die Umstände mehr als verdächtig sind. Man darf und muss sogar so weit gehen verdreht zu denken, um zu einer Erklärung zu gelangen, wieso ein Mensch in seiner Handlungsweise nicht derart schuldbehaftet ist, wie es scheint.
Es mag notwendig sein, dass man sich winden und drehen muss wie ein Aal, um eine plausible Erklärung für das verdächtige Verhalten eines Menschen zu finden. Aber vielleicht ist gerade das Reinwaschen von Verdacht eine gute Gelegenheit, um schlitzohriges Denken an den Tag zu legen und die Beweggründe eines Menschen zu rechtfertigen.
Nur allzu oft betrachten wir unsere biblischen Helden oder unsere Nachbarn und stutzen, weil sie Taten begehen, welche scheinbar ihre Weisheit, Anstand oder Moral in Frage stellen. Die Lehre dieses Da’at Sekejnim miBa’alej Tossafot ist, dass wir nicht voreilige Schlüsse ziehen sollen. Mögen wir unser schöpferisches Denken und sogar unsere ‚Krumkeit’ dazu gebrauchen, um uns auszudenken, weshalb ein Mensch nicht so schuldbehaftet ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
Quellen und Persönlichkeiten:
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Raschi (1040-1105) [Rabbi Schlomo ben Jizchak]; Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TANACH- und Talmudkommentare“.
Ba’alej Tossafot („Tossafisten“): Talmuderklärer des 12. und 13. Jahrhunderts. Von ihnen stammen auch einige Erklärungen zum Chumasch, wie z.B. Da’at Sekejnim miBa’alej Tossafot.
Rav Jizchok Hutner (1907 - 1980): Rosch Jeschiwah der Jeschiwah Mesifta Chajim Berlin in New York.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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