Die Lektion des Hauses von Avtinas (Rav Frand Ki Tissa 5782)

Rav Frand zu Paraschat Ki Tissa 5782

Die Lektion des Hauses von Avtinas

Paraschat Ki Tissa enthält die Mizwa des Ketoret (Räucherwerk). Das Ketoret wurde zweimal im Tag auf dem goldenen Misbe’ach (Altar), der sich im Mischkan (Stiftzelt) vor dem Kodesch Hakodaschim (Allerheiligstem) befand, dargebracht. Klall Jisrael genoss enorme Vorteile durch das Darbringen des Ketoret. Das Ketoret war ein enormer Schutz gegen Krankheiten und Sterben. Das Ketoret setzte sich aus verschiedenen Pflanzen, Gewürzen und Kräutern zusammen, die dem Heiligtum (Mischkan, Bejt Hamikdasch) ein angenehmes Aroma gaben.

Die Mischna [Talmud Traktat Joma 38a] zählt gewisse Familien in einem nicht positiven Licht auf (we'ejlu li'Gnai), wovon eine das Haus (Familie) von Avtinas (Bejt Avtinas) war. Das Haus von Avtinas war zuständig für die Herstellung des Ketoret (Räucherwerk) für das Bejt Hamikdasch (Tempel). Sie weigerten sich jedoch, irgendjemand anderem das "Geheimnis" der Herstellung des Ketoret preiszugeben. Aus diesem Grund erwähnt die Mischna sie (zusammen mit gewissen anderen Familien und Personen) in negativer Weise.

Der Chafez Chajim schreibt aufgrund dieser Mischna in seinem Sefer Schmirat Halaschon: Falls das Bejt Din (das jüdische Gericht) jemandem den Auftrag erteilt, etwas zu tun, und er ignoriert dessen Auftrag, so ist es erlaubt, negativ über ihn zu schreiben (z.B., dass er dem Auftrag des Bejt Din’s nicht nachgekommen ist). Er erwähnt diese Mischna als Präzedenzfall für die Tatsache, dass man die schlechten Gepflogenheiten einer Person in der Chronik der Stadt aufzeichnen darf, auch wenn diese Information bis in alle Ewigkeit fortbesteht.

Die Gemara (Talmud) zu dieser Mischna [Joma 38a] sagt, dass die Chachamim (Weisen) versuchten, das Haus von Avtinas zu umgehen. Sie zogen Spezialisten aus Alexandrien in Ägypten bei, die Experten im Mischen von Gewürzen und Kräutern waren. Sie wollten dem Haus von Avtinas das Recht aberkennen, das Ketoret herzustellen, weil sie sich weigerten, sich an die gerichtliche Verfügung zu halten, ihr Rezept für das Ketoret anderen bekanntzugeben. Deshalb versuchten die Chachamim, diese Aufgabe selbst zu lösen, indem sie Spezialisten aus Ägypten herbeibrachten.

Die Gemara erzählt, dass die Experten aus Alexandrien wohl fähig waren, die Mischung herzustellen, die das Aroma des Ketoret reproduzierte; es gelang ihnen jedoch nicht den Rauch des brennenden Ketoret in einer geraden Säule nach oben bis zur Decke aufsteigen zu lassen, wie es beim Ketoret des Hauses von Avtinas Tradition war. Der Rauch des alexandrinischen Ketoret verflüchtigte sich, anstatt kerzengerade aufzusteigen.  

Die Chachamim mussten zum Haus von Avtinas zurückkehren Die Gemara [ibid.] sagt, dass die Chachamim zum Schluss kamen: "Alles was der Heilige, Gelobt sei Er, erschaffen hat, hat Er für Seine Ehre geschaffen, wie geschrieben steht: 'Kol pa’al Haschem Lema’anehu - Alle Werke von Haschem sind für Ihn (Seinetwegen)' [Mischlej/Sprüche 16:4]".

Rabbejnu Chananel interpretiert dies mit den Worten: "Haschem gibt Seinetwegen einer Person eine besondere Weisheit mehr als einer anderen, damit Seine Arbeit durch denjenigen erfüllt wird, den Er dazu auserwählt hat." G"tt gab dem Haus von Avtinas das Geheimnis, wie das Ketoret vollkommen hergestellt werden kann; wir können daraus schliessen, dass Er will, dass sie und niemand anders es tun soll. Manchmal gibt Haschem gewissen Menschen ein besonderes Wissen oder Talent, um etwas zu erreichen, weil Er will, dass sie die Aufgabe erfüllen.

Die Chachamim hatten keine andere Wahl, als die Familie von Avtinas wieder anzustellen und ihnen die Herstellung des Ketoret wieder zu übergeben. Der Talmud erzählt, dass die Chachamim ihnen eine Botschaft zukommen liessen, dass sie kommen und ihre Aufgabe wieder übernehmen sollen, worauf sie sich weigerten zu kommen. Die Gemara sagt, dass die Chachamim ihren Lohn verdoppeln mussten, bevor sie bereit waren, die Aufgabe wieder zu übernehmen. Ursprünglich hatten sie 12 Maneh pro Tag erhalten und jetzt erhielten sie 24 Maneh pro Tag.

Als sie schliesslich (mit dem höheren Lohn) zurückkamen, fragten die Weisen sie: "Warum habt ihr euch geweigert, anderen zu zeigen, wie man dies macht?" Sie antworteten: " Unsere Ahnen hatten die Überlieferung, dass das Bejt Hamikdasch zerstört werden wird. Deshalb befürchten sie, dass die Information über die Herstellung von Ketoret in die Hände von unangemessenen Menschen fallen würde, die dann solch ein Ketoret herstellen werden, um damit den Götzen zu dienen. Aus diesem Grund wurde beschlossen, das Geheimnis in unserer Familie zu behalten."

Die Frage liegt auf der Hand: Da sie doch äusserlich gesehen eine treffende Antwort gaben, warum werden sie in der Mischna verurteilt? Der Maharscha schreibt dazu, dass die Chachamim diese Antwort nicht annahmen. Sie hatten das Gefühl, dass der einzige Grund, warum die Familie sich weigerte, ihr Wissen preiszugeben, derjenige war, dass sie das Monopol über das Ketoret für sich behalten wollten. Sie hatten ein Kartell, das sie nicht verlieren wollten. Der beste Beweis dazu, dass sie nachher täglich einen doppelten Lohn verlangten und dadurch die Einkünfte des Bejt Hamikdasch erheblich schmälerten. Aus diesem Grund listet die Mischna sie unter den Familien auf, die eine Ächtung verdienten; aufgrund dessen schrieb der Chafez Chajim, dass es uns erlaubt ist, öffentlich Leute zu verurteilen, die das Bejt Din missachten – auch wenn sie dafür eine Ausrede haben – falls das Bejt Din annimmt, dass ihre Ausrede eigennützig und unaufrichtig ist.

Die Gemara berichtet daraufhin auch über ein positives Detail über das Haus von Avtinas. Am Ende der Erörterung erzählt der Talmud das folgende: "Von hier (diesem Vorfall mit dem Haus von Avtinas) sagte Ben Asai: "Beschimcha jikra'ucha uwimkomcha joschiwucha" (mit deinem Namen wirst du gerufen werden und an deinem Ort wirst du platziert werden). Raschi interpretiert dies wie folgt: Ein Mensch sollte sich nicht sorgen und sagen: "Dieser oder jener nimmt meinen Lebensunterhalt weg", denn wie dem auch sei, wirst du gerufen und an deinen richtigen Platz zurückgebracht werden. In anderen Worten: Jeder wird letzten Endes das Einkommen und den Besitz erhalten, das ihm vom Himmel bestimmt wurde. Niemand kann den Lebensunterhalt seines Nachbarn - gegen den Willen von Haschem - wegnehmen.

Rav Pam schreibt in seinem Sefer, dass wir von dieser Gemara eine wichtige Sache lernen können. Wenn aufgrund des jüdischen Gesetzes ein Mensch ein Konkurrenzgeschäft eröffnen darf - ohne gegen die Halachot (Vorschriften) von "Hasagat Gewul" (Konkurrenzverbot) zu verstossen - muss der ursprüngliche Geschäftsbesitzer sich nicht Sorgen machen, dass das zweite Geschäft sein eigenes negativ beeinflussen wird. Das Einkommen eines Menschen ist von Beginn des Jahres bis zum Beginn des nächsten Jahres vorbestimmt. Was dir gehört, gehört dir und niemand wird es dir wegnehmen können. 

Genauso wie die Chachamim das Monopol des Hauses von Avtinas nicht brechen konnten, weil vom Himmel aus bestimmt worden war, dass sie diese Aufgabe und dieses Einkommen haben sollten, kann das Einkommen von niemandem nachteilig beeinflusst werden, solange der andere Konkurrent sich an die Richtlinien des jüdischen Gesetzes hält. (Wenn er ausserhalb des Rahmens des jüdischen Gesetzes handelt, besteht der Rechtsweg durch das System des jüdischen Gerichts.)

Vor mehreren Monaten kam ein Mann zu mir, der in einer gewissen Stadt ein Geschäft besass. Er hatte gehört, dass ein Konkurrent ein ähnliches Geschäft eröffnen wolle. Er und ein anderer Besitzer eines ähnlichen Geschäfts in der gleichen Stadt kamen zu einer Besprechung zusammen. Dieser Mann schlug vor, dass sie paktieren sollten, den Preis auf ein gewisses Produkt, das der andere Geschäftsmann zur Schau stellen wolle, zu reduzieren, sodass der neue Kaufmann sein neues Unternehmen nicht in Gang bringen könne. Der Plan würde ihn aus dem Markt drängen, bevor er noch beginne. Also fragte mich der Mann, der diesen Plan hegte, ob er es tun solle? Ich sagte ihm, er solle es nicht tun. Wenn der neue Geschäftsinhaber gemäss jüdischem Gesetz das Recht hat, ein neues Geschäft zu eröffnen (und er hatte dieses Recht in diesem Fall), musst du realisieren, dass was immer dir gehören sollte, dir gehören wird und was ihm gehören soll, ihm gehören wird. Dies ist, was wir aus der Gemara über das Haus von Avtinas sehen.

'Kol pa’al Haschem Lema’anehu - Alle Werke von Haschem sind Seinetwegen’. Der Allmächtige wollte, dass das Haus von Avtinas das exklusive Recht habe, das Ketoret herzustellen, was immer der Grund dafür sein möge, deshalb wird nichts dieses Recht beeinflussen können. Deshalb sagt uns Ben Asai, dass niemand den Job und das Einkommen seines Nachbarn gegen den Willen von Haschem wegnehmen kann.

Im Laufe unseres Lebens ereignet sich dies so oft: "Wenn dieser Mensch dies tut, wird er mein Geschäft ruinieren…" Sorge dich nicht! ‘Beschimcha jikra'ucha uwimkomcha joschiwucha’. Was für dich bestimmt ist, wird immer dir gehören.

Quellen und Persönlichkeiten:

1. Rabbi Elchanan oder Rabbejnu Chananel ben Chuschiel (980 - 1057) von Kairouan (Tunesien). Er wird auch mit RaCh bezeichnet, ein Akronym für Rabbejnu Chananel. Er war am Ende der  Epoche der Ge’onim und einer der ersten Rischonim. Er leitete eine bedeutende talmudische Hochschule in Kairouan. Rabbejnu Chananel verfasste einen Kommentar zum ganzen  babylonischen Talmud mit halachischem Erkenntnisinteresse, der noch zu einem grossen Teil  erhalten ist. Sein umfassender Kommentar zum Pentateuch ging verloren, jedoch sind viele Erklärungen durch andere Rischonim, die seinen  Kommentar zitieren, erhalten geblieben. Im Jahr 1972 wurden sie von Rav Schewel gesammelt und in einem Band herausgegeben.

2. Maharscha: Akronym von Rabbi Schmuel Elieser Halevi Edels (1555-1631). Seine Mutter war eine Cousine des berühmten Maharal von Prag. Bedeutender Talmudkommentator. Seine Talmudkommentare gehören zu den Klassikern der talmudischen Literatur, geniessen grosses Ansehen und sind in fast allen Talmudausgaben enthalten. Rabbiner in Chelm (bei Lublin), dann in Lublin (Polen) und schlussendlich in Ostraha (Ostrog, Polen heute Ukraine), wo er eine grosse Jeschiwa gründete.

3. Chafez Chajim (1838-1933): Rav Jisrael Me’ir HaKohen von Radin (Polen, heute Weissrussland). Rabbiner und grosser Zaddik. Er war ein einflussreicher Führer des orthodoxen Judentums in Europa. Autor von unzähligen grundlegenden Werken zu jüdischem Recht und jüdischen Werten (Halacha, Haschkafa und Mussar), wie Mischna Berura, Chafez Chajim, Schmirat Halaschon, etc.

4. Rav Avraham Pam (1913 - 2001): Führender Gelehrter; Rosch Jeschiwa; Brooklyn, New York.

____________________________________________________________________

Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

__________________________________________________________________________________________________________________________________________________

Copyright © 2022 by Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum.

Zusätzliche Artikel und Online-Schiurim finden Sie auf: www.juefo.com

Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor und Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum.

Das Jüdische Informationszentrum („Jüfo“) in Zürich erreichen Sie per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! für Fragen zu diesen Artikeln und zu Ihrem Judentum.

What do you think?

Send us feedback!

Drucken