Die richtige Wahl (Rav Ciner, Re'eh 5782 - Beitrag 2)

Rav Ciner zu Parschat Re'eh 5782 – Beitrag 2
Die richtige Wahl
Der Wochenabschnitt beginnt mit folgendem Ausspruch von Mosche Rabbejnu: "Re'eh anochi noten lifnejchem haJom Beracha uKelala" - "Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor" [11:26]. In klaren Worten zeigt Mosche uns die Wahlmöglichkeiten, die wir im Leben haben.
Der Or Hachajim gibt dem Ausdruck "Re'eh anochi - siehe ich" noch eine zusätzliche Bedeutung. Mosche versucht, sie zu überzeugen, dass sie die ewigdauernden Freuden der künftigen Welt den vergänglichen Vergnügungen dieser Welt vorziehen sollen. Ohne klares Verständnis von Ewigkeit, kann man nicht wählen, was vorzuziehen ist. Nur jemand, der ein exaktes Bild der Freuden beider Welten hat, ist wirklich imstande, anderen zuzureden, welche Wahl sie treffen sollen. Hat jemand die Vergnügungen dieser Welt nicht selbst erlebt, können andere ihm vorhalten, dass er ein anderes Liedchen singen würde, hätte er die angenehmen Seiten dieses Lebens wirklich erlebt.
Deshalb sagt Mosche: "Re'eh anochi" - schaut mich an! Einerseits bin ich einer der reichsten Menschen der Welt (den Abfall des teuren Gesteines der zwei Tafeln durfte er behalten), ich bin ein Führer einer ganzen Nation und weiss genau, was diese Welt zu bieten hat. Anderseits stieg ich auf den Berg Sinai, war insgesamt 120 Tage dort, erreichte himmlische Sphären und sah klar, was die nächste Welt bietet. (Anmerkung des Herausgebers: Wer die Biographie von Mosche kennt, weiss, dass es keine Lebenslage auf der Welt gibt, die Mosche nicht durchgelebt hat!). Wenn jemand euch sagen kann, was Beracha (Segen) und was Kelala (Fluch) bedeutet, dann bin ich es. Entscheidet weise!
Oft halten mir Studenten vor, dass wir ja nur die materiellen Freuden dieser Welt und nicht die geistigen kennen. Wie können wir über etwas sprechen und etwas anstreben, das uns so fern liegt?! Darauf entgegne ich ihnen mit einer einfachen Frage: Welche der folgenden Freuden würdest du wählen: Im ersten Fall kannst du so viel von deiner Leibspeise essen wie du willst - also eine rein körperliche Freude. Im anderen Fall sprichst du mit einer niedergeschlagenen Person, du fühlst mit ihr und kannst ihr dadurch wirklich helfen. Nach der Unterhaltung schaut dir dieser Mensch in die Augen und sagt: "Vielen Dank, ich kann dir gar nicht ausdrücken, wie sehr du mir geholfen hast." Dies ist eine Freude, die eventuell nicht rein geistig ist, aber ganz bestimmt nichts Materielles verkörpert.
Ein aufrichtiger Mensch wählt sicher das zweite Vergnügen. Wenn wir sogar jetzt, umgeben von einem irdischen Körper, in einer materialistischen Welt die Tiefgründigkeit des Geistigen und die Oberflächlichkeit des Materiellen ermessen können – um wieviel mehr, wenn wir einmal unsere körperliche Hülle abgeworfen haben!
Grosse Verantwortung
Der Kli Jakar hat einen anderen Zugang. Er stellt fest, dass das Wort "Re'eh" in Singular steht ("siehe"), also den Einzelnen anspricht, das Wort "lifnejchem" hingegen in Plural ("vor euch") steht. Warum wechselt der Vers von der Einzahl zur Mehrzahl?
Die Gemara [Talmud Traktat Kiduschin 40b] lehrt im Namen von Rabbi El’asar ben Rabbi Schim’on, dass ein Mensch sich dauernd vor Augen halten soll, dass die Welt zwischen den Verdiensten und den Sünden im Gleichgewicht ist. Falls du eine einzige Mizwa (Gebot) erfüllst, neigst du dich selbst und auch die ganze Welt auf die Seite der Verdienste und dies nur in deinem Verdienst. Eine einzige Sünde, hingegen, lässt dich und die ganze Welt auf die falsche Seite gleiten und du allein trägst dafür die Verantwortung!
Das, sagt der Kli Jakar, wollte Mosche dem jüdischen Volk klar machen: "Re'eh!" Du, als Einzelner, sollst erkennen, dass das Schicksal der ganzen Welt in deinen Händen ist. Sage dir selbst: "anochi noten lifnejchem" – "ich lege vor euch"; ich lege vor die Welt. Die ganze Welt ist in der Schwebe, ob sie sich zur Beracha (Segen) hin neigt oder zur Kelala (Fluch), hängt ganz von mir ab!
Quellen und Persönlichkeiten:
Rabbi Schlomo Efrajim ben Aharon Luntschitz (1550 – 1619): Luntschitz (Polen), Lvov (Lemberg, Galizien, heute Ukraine), Prag (Tschechien). Talmud-Gelehrter, Rabbiner und geistiger Führer der Juden von Prag. Autor von vielen Werken, wie Olelot Efrajim, Siftej Da’at, Amudej Schesch, Ir Giborim und des klassischen Torahkommentars "Kli Jakar".
Or HaChajim Hakadosch (1696 – 1743): Name des Hauptwerks von Rabbi Chajim ben Mosche ben Atar, berühmter Thorakommentar; Verfasste weitere Werke wie Chefez Haschem, Peri To‘ar, Rischon Lezion. Marokko, Italien, Israel.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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