Nähe, Entfernung und dann eine noch grössere Nähe - Raw Ciner zu Sukkot 5765
Nähe, Entfernung und dann eine noch grössere Nähe (Raw Ciner zu Sukkot 5765)
Wir sind mitten im Monat Tischri, dem siebten Monat des jüdischen Jahres. Oft sehen wir, dass auf sechs profane Einheiten eine heilige siebte folgt. Den ersten sechs Tagen der Woche folgt der Schabbat. Am Ende von sechs Jahren kommt das Schmitta-Jahr (in dem keine Feldarbeit geleistet werden darf). Und auf sechs Monate folgt der Tischri, der siebte Monat, welcher von einer Vielzahl von Feiertagen erhellt wird.
Wir benötigen eine historische Blickweise um die Verbindung und den Übergang zwischen Jom Kipur, dem Versöhnungstag, und Sukkot, dem Feiertag der Wolke von G’ttes Herrlichkeit.
Am fünfzehnten Tag des Monats Nissan zogen die Bnej Jisrael (Kinder Israels) hinaus, weg von der niederdrückenden Sklaverei Mizrajims (Ägyptens). Die Reise durch die Wüste wurde von den „Ananej haKawod“, den Wolken der g’ttlichen Herrlichkeit begleitet. Sie wiesen ihnen den Weg und gewährten der Nation eine schützende Hülle.
49 Tage später, am sechsten Siwan standen die Bnej Israel am Fusse des Har (Berg) Sinaj, wo sich der Himmel öffnete und alle G’ttes Wort vernahmen. Anschliessend stieg Mosche auf den Berg, wo er vierzig Tage verweilte, um dort die Torah vorgetragen zu erhalten und die Luchot (Tafeln mit den zehn Geboten) herunterzutragen.
Die Bnej Israel verrechneten sich und meinten, dass Mosche tot sei. Daraufhin begingen sie die Sünde des goldenen Kalbs. Mosche stieg am 17. Tamus hinunter, sah das goldene Kalb und zerbrach die Luchot. Aus diesem Grund verschwanden die „Ananej haKawod“.
Mosche stieg am 18. Tamus wieder auf den Berg und bat vierzig Tage lang um Vergebung für die Bnej Israel. Am 29. Aw stieg er hinunter um die zweiten Luchot auszuhauen. Am 30. Aw stieg er zum dritten Mal für vierzig Tage auf den Berg. Am Jom Kippur, dem zehnten Tischri, stieg Mosche mit G’ttes Botschaft wieder hinunter: „Salachti – Ich habe vergeben.“ Am folgenden Tag versammelte Mosche die Kinder Israels, um sie aufzufordern verschiedene Materialen für den Bau des Mischkans (Stiftzeltes) zu spenden, welche sie dann auch am zwölften und dreizehnten Tischri brachten. Am vierzehnten wurden die Baustoffe, welche Mosche erhalten hatte, den Handwerkern übergeben, die am Bau des Mischkan (Stiftzelt) beteiligt waren und am fünfzehnten begann der eigentliche Bau.
An diesem Tag kehrten die Ananej haKawod zurück und dienten als Sukkah, dem liebevollen Schutz, welchen Haschem Seinen Kindern gewährte. Wir wiederholen diese Darstellung von Liebe und Nähe dadurch, dass wir am fünfzehnten Tischri unsere Häuser verlassen und in die Sukkah ziehen.
Nähe, Entfernung und dann eine noch grössere Nähe; wir feiern kein Gedenken an die ersten Ananej haKawod, weil sie keinen Bestand hatten. Die Ananej haKawod, welche auf die reuige Rückkehr folgten, werden jährlich gefeiert. Nähe, Entfernung und dann noch eine grössere Nähe: Dieses Muster wiederholt sich nicht nur auf nationaler Ebene sondern bei jedem Einzelnen.
Eine der bewegendsten Geschichten, welche ich je gehört habe, wird in „Chassidischen Geschichten zum Holcaust“ erzählt und handelt von einem jungen Mädchen namens Ida. 1944 wurde sie, zusammen mit ihrer Familie und dem Rest ihrer tschechoslowakischen Stadt nach Auschwitz deportiert. Auf dem Bahnsteig sah sie ihre Familie zum letzten Mal, weil nachher nur sie und ihre Schwester die Selektion überstanden. Sie erhielt die Aufgabe, die Kleider der Opfer der Vergasung der Grösse nach zu sortieren und sie für den Gebrauch deutscher Zivilpersonen vorzubereiten.
Eines Nachts vernahm sie ein fremdartiges Geräusch unter der dreistöckigen Pritsche, auf welcher Ida zusammen mit noch 35 Mädchen hauste. Die anderen elf mussten wegrutschen, damit Ida hinaussteigen konnte, um den Grund für dieses Geräusch zu herauszufinden. Sie fand unter dem Bett ein angstvoll zusammengerolltes kleines Mädchen, das der Kinderaktion entkommen war. Es hatte sich in der Latrine versteckt und nachher in den Baracken verborgen.
Der Name des Mädchens war Estherke. Sie hatte grosse, verschreckte Augen und wunderschöne blonde Locken. Ida war sofort von Estherke hingerissen und ihr Leben bekam einen neuen Sinn und eine neue Aufgabe: Estherkes Leben zu retten. Ihre mageren Rationen wurden zweigeteilt und irgendwie vermochten sie es, beide am Leben zu erhalten.
Ida wusste, dass Estherke bei einer Evakuierung des Lagers niemals die Selektion überstehen würde. Sie bereitete deshalb einen Plan vor. Estherke wurde, in eine Decke gewickelt, über den Elektrozaun in die wartenden Arme eines männlichen Insassen im benachbarten Männerlager geworfen. Im Laufe des späteren Nachmittags gelangte das Päckchen wieder auf dem gleichen Weg in Idas wartende Arme – nunmehr im neuen Lager.
Im Januar 1945 wurde das Lager wieder evakuiert und Ida hatte Estherke in einem Rucksack auf ihrem Rücken, als sie zum berüchtigten Todesmarsch aufbrachen. Ida wanderte mit ihrer wertvollen Fracht durch Wind und Schnee, bis sie Bergen Belsen erreichten.
Im April 1945, nach weiteren Schreckensmonaten wurden Ida, ihre Schwester, Estherke und alle, die irgendwie überlebt hatten, von den Engländern befreit. Alle wollten in ihre Heimat zurück, um herauszufinden, wer von den Verwandten sonst noch am Leben geblieben war. Zum ersten Mal nach der schicksalhaften Nacht in Auschwitz musste sich Ida von Estherke trennen. Sie vereinbarten, dass sie sich, ohne Rücksicht auf das Resultat ihrer Suche, in genau zwei Wochen in Prag wieder treffen würden und machten sich dann auf den Weg.
Zwei Wochen vergingen, Ida kehrte nach Prag zurück, aber Estherke tauchte nicht auf. Monate intensiver Suche halfen nichts. Estherke schien vom Erdboden verschwunden zu sein.
Ida traf und heiratete einen Überlebenden und zog nach Amerika. Ihre Schwester konnte die britische Blockade umgehen und begann in Israel ein neues Leben.
Zu Beginn der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts reiste Ida nach Israel, um ihre Schwester zu besuchen. An einem überaus heissen Tag wurde sie ohnmächtig und von zwei jungen Soldaten in ein Spital eingeliefert. Ida freundete sich mit ihnen an und sie besuchten sie jeden Tag.
Am Tag ihrer Entlassung fragte Ida, wie sie ihnen ihre Güte zurückzahlen könne. Einer von ihnen berichtete ihr, dass er am folgenden Tag heirate und er sich wünsche, dass sie an seiner Hochzeit teilnehme.
Und so fand sich Ida bei einem leichten Wind, der von den Hügeln Jerusalems herüberwehte unter den anderen Gästen ein und versuchte ein vielleicht bekanntes Gesicht zu finden. Neben ihr sagte jemand: „Die Braut kommt.“ Ida bewegte sich nach vorne, um einen Blick von dem Mädchen zu erhaschen, welches ihr so liebevoll beschrieben worden war. Die Tür öffnete sich und voll Erstaunen sah sie ihre geliebte Estherke hereinschreiten. Und so kam es, dass Ida, unter den Sternen, welche über der Heiligen Stadt leuchteten, nach vorne trat und ihre Estherke unter die Chuppa (Brauthimmel) führte. Nähe, Entfernung und noch grössere Nähe. Die Irrfahrt von Ida und Estherke. Die Irrfahrt der Ananej haKawod, welche nach der Vergebung von Jom Kipur zurückkehrten. Die Irrfahrt jeder Seele, welche sich aus den himmlischen Sphären in den irdischen Bereich begibt, nur um später, bereichert um die Früchte ihres irdischen Aufenthalts, wieder zurückzukehren.
Es gibt noch eine Gruppe von sechs profanen Einheiten, auf welche eine heilige siebte folgt. Die Welt wird sechstausend Jahre bestehen. Moschiach wird dann gegen Ende dieser sechstausend Jahre eine Verwandlung einleiten, und die Welt für das siebte Jahrtausend neu aufbauen.
Möge dieses Jahr ein Jahr des Segens und der Erlösung werden, ein Jahr, in welchem die Welt ihren jetzigen Zustand der Entfernung und Verwirrung abstreift und in eine Epoche der endgültigen Nähe hinüberwechselt.
Quellen und Persönlichkeiten
Rabbi Josef Ber Solovieitschik [Beis HaLevi] (1820 – 1892): Rabbiner und Gelehrter in Voloschin, Slutzk, Warschau und Brisk (Brest-Litovsk), Polen.
Rav Frand, Copyright © 2008 by Rav Frand und Project Genesis, Inc und Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum.
Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor, Project Genesis und Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum und auf Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, sowie www.torah.org.