Ergänzungen: S. Weinmann
Das Ziel und der Zweck unserer Gebete
Wir glauben mit tiefer Überzeugung, dass alles, was im kommenden Jahr geschehen wird – sowohl auf persönlicher als auch auf nationaler Ebene – in der Periode der "Asseret Jemej Teschuwa - Zehn Teschuwa-Tage" festgelegt wird. Uns allen ist der Begriff "Dirschu Haschem behimoz’o, kera’uhu bihjoto karow – Sucht den Ewigen, wenn Er sich finden lässt, ruft Ihn an, wenn er nahe ist" [Jeschajahu 55:6] bekannt. Dies ist die Zeitperiode im Jahr, wenn der Herr der Welt uns besonders nahe steht und deshalb die normalen Hindernisse, die uns hindern unsere Gebete wirksam zu machen, entfernt werden, sodass unsere ehrlichen Gebete von Ihm gewiss angehört werden.
Ich sage mir immer – und jedem, der mir zuhört – dass wir diese Periode des Jahres - wie keine andere zehntägige Periode im Kalender - ausnützen müssen. Besonders bezüglich der Gebete und Bitten für alle Dinge, die wir benötigen, ist dies die richtige Zeit dafür. Was wir während dem restlichen Jahr bei unserer Beteiligung an einem Minjan oder bezüglich der Kawana während dem Dawenen oder der Schnelligkeit der Gebete, tun, all dies sollte zu dieser Zeit beiseitegelegt werden; zu dieser einzigartigen Zeit des Jahres ist jedes Schacharit-, Mincha- und Maariv-Gebet eine einmalige Gelegenheit zur Stärkung unserer Kommunikation mit dem Allmächtigen.
Wir können diese einmalige Gelegenheit nicht vergeuden. Ich glaube deshalb, dass es sich lohnt, einige Minuten am Tag damit zu verbringen, über den Begriff des Gebetes zu sprechen. Normalerweise beginne ich mit ein "Dwar Tora", einen Tora-Gedanken, eine Einsicht, und ende dann mit einer Geschichte. Heute werde ich mit einer wahren und erstaunlichen Geschichte beginnen, die für uns eine sehr wichtige Lektion darstellt.
Die Geschichte wurde von Rabbi Aryeh Lev Ginsberg, einem Raw in New York, erzählt und niedergeschrieben. Rabbi Ginsberg hatte ein Gemeindemitglied, welcher einen Sohn hatte, der in Erez Jisrael lernte. Der Sohn fühlte sich mit Erez Jisrael sehr verbunden und beschloss, eine Hesder Jeschiwa zu besuchen, die das Torastudium mit dem Militärdienst verbindet. Er wurde ein Mitglied der israelischen Armee und errang eine Führungsposition in den israelischen Streitkräften. Im Sommer 2005 beschloss die israelische Regierung, den Gaza-Streifen den Arabern zurückzugeben. Die Armee musste die jüdischen Siedler, die sich weigerten, freiwillig ihre Siedlungen zu verlassen, gewaltsam entfernen. Der amerikanische Student war sehr verstört über diese Anweisung. Er war der Meinung, dass dies nicht die richtige Handlungsweise war, aber als Soldat befolgte er die Anweisungen und nahm an der erzwungenen Evakuierung teil.
Seine Einheit kam zu einer gewissen Siedlung in Gaza. Es war seine Aufgabe, sicherzustellen, dass die Siedler die Busse, die sie evakuierten, bestiegen. Er arbeitete mit dem Rabbiner der Siedlung zusammen. Alle Siedler versammelten sich in der Synagoge der Stadt. Der Rabbiner sprach, der Soldat sprach, sie weinten alle, und schliesslich verliessen alle die Schul und bestiegen den Bus. Nachdem jeder das Gebäude verlassen hatte, nahm der Soldat sein Siddur aus seinem Rucksack, kniete auf den Boden, hob eine Grube aus, und begrub sein Siddur. Der Rabbiner der Siedlung fragte ihn, warum er dies getan habe. Der Soldat antwortete, vielleicht wird Israel in einem Jahr, in fünf oder fünfzig Jahren an diesen Ort zurückkehren und die Leute die ihn wieder aufbauen werden, werden vielleicht sein Siddur finden und realisieren, dass wir an diesem Platz unsere Herzen und Gebete zurückgelassen haben.
Elf Monate später. Es ist jetzt Sommer 2006. Gilad Schalit wurde von Hamas Militanten in Gaza gefangen genommen. Israel beschloss, noch einmal nach Gaza einzudringen, um ihn zu finden. Die Einheit dieses amerikanischen Soldaten wurde nach Gaza zurückgesandt, um einen Stützpunkt zu erstellen. Sie drangen im Schutze der Dunkelheit nach Gaza ein. Sie wussten nicht genau, wo sie waren, aber sie stoppten an einem gewissen verlassenen Platz, um ihr Lager aufzuschlagen. Am nächsten Morgen sah sich der Soldat um. Er war gänzlich desorientiert. Er erkannte nichts. Das Einzige, was er sah, war Schutt von Häusern, Treibhäusern und Gebäuden, die zerstört wurden. Er wusste nicht eigentlich, wo er sich befand. Er hatte das Gefühl, dass er sein Siddur suchen sollte. Er kniete auf den Boden nieder und begann zu graben. Siehe da, er fand sein Siddur! Es gab kaum eine Chance, dass dies geschehen würde, deshalb war er gänzlich aufgewühlt von diesem Vorfall. Als er Gaza wieder verliess, rief er seinen Vater in Amerika an und erzählte ihm die erstaunliche Geschichte, und bat ihn, seinen Rabbiner zu fragen, wie er diesen Fund interpretieren solle.
Rabbi Ginsberg selbst war verblüfft und wurde damit nicht fertig, selbst die Bedeutung der Geschichte zu interpretieren. Deshalb arrangierte er ein Treffen zwischen dem Soldaten und Raw Chajim Kanievsky, um dem Soldaten die Möglichkeit zu geben, die Meinung eines grossen und heiligen Mannes in Israel über diesen Vorfall zu hören.
Raw Chajim Kanievsky fragte ihn: "Was hast du getan, als du wusstest, dass du die Siedler aus Gaza evakuieren musst?" Der Soldat antwortete: "Ich ging zu meinem befehlshabenden Offizier und zur Vorgesetztenkette, um jeden zu überzeugen zu versuchen, dass dieses Vorgehen ein Fehler ist und dass wir die Operation nicht durchführen sollten." "Was hast du sonst noch getan?" fragte Raw Kanievsky weiter. Der Soldat fügte hinzu, dass er zum Herrn der Welt gebetet habe, dass dies nicht geschehen soll und Er bitte Gnade walten lassen soll.
Raw Chajim fragte daraufhin: "Als es dann geschah und du sie evakuieren musstest, was tatest du dann?" Der Soldat antwortete: "In diesem Augenblick hörte ich auf, dafür zu dawenen." Raw Chajim Kanievsky sagte: "Der Herr der Welt sagt dir: Höre nie auf, für etwas zu dawenen! Dies ist der Grund dafür, dass du dein Siddur gefunden hast. Du hast das Siddur begraben, weil du das Gefühl hattest, dass es sinnlos ist, weiter zu dawenen. G"tt hat dich dein Siddur finden lassen, damit du realisieren sollst, dass es nie zu spät ist, für etwas zu dawenen!" "Alles ist aussichtlos?" G"tt sagt dir: "Nein. Alles ist nicht aussichtslos. Nimm dein Siddur und beginn wieder zu dawenen."
Dies ist die Lektion, die wir im Gedächtnis behalten müssen, wenn wir uns den Hohen Feiertagen nähern. "Vertraue in G"tt, stärke dein Herz und sei mutig, und vertraue in G"tt" [Tehillim 27:14]. Der Talmud [Berachot 32b] interpretiert diesen Passuk so, dass wenn ein Mensch dawent und sieht, dass seine Gebete nicht erhört wurden, er weiter dawenen soll... Dies ist einer der grossen Fehler, die wir begehen. Wir denken, dass wir für so viele kranke Personen dawenen, denen es nachher nicht besser geht. Wir beten für so viele schwere Situationen, die sich nicht verbessern. Wir dawenen für so viele Dinge, und unsere Gebete werden scheinbar nicht beantwortet. Dies ist ein Fehler. Kein Gebet geht je 'verloren'. Sie mögen uns zu einer besonderen Zeit oder an einem besonderen Ort nicht helfen, aber alle Gebete gehen zum Himmel und werden zu einer gewissen Zeit oder an einem gewissen Ort eine Wirkung haben. Der Talmud sagt, dass das Gebet eines der Dinge ist, das am Gipfel der Welt (beRumo schel olam) steht, und doch nehmen die Leute es auf die leichte Schulter [Berachot 6b]. Der Ba’al Schem Tow erklärt, dass die Leute das Gebet auf die leichte Schulter nehmen, weil seine Wirkung 'am Gipfel der Welt' geschieht und es u.U. Jahrhunderte dauern kann, bis deren Wirkung hier auf der Erde erkannt wird. Wir beten vielleicht für uns selbst, das Gebet etabliert sich, aber erst bei einem Ururenkel von uns zeigt sich seine Wirkung. Wir sehen die Wirkung nicht, deshalb nehmen wir es manchmal auf die leichte Schulter.
Wir leben im Computer-Zeitalter, wo wir unsere Frage in eine Suchmaschine eingeben und normalerweise eine sofortige Antwort erhalten. Wir können keinen Zusammenhang zwischen einem Gebet - das erhört wurde, aber erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später seine Wirkung zeigt - sehen. Wir sehen dies oft nicht und schätzen es deshalb nicht.
Die Lektion der Geschichte mit dem Siddur ist: Hör nicht auf zu dawenen! Wir müssen aber noch eine weitere Sache beherzigen: Wie wichtig und notwendig diese hohen Tage auch für uns persönlich sind, dürfen wir nicht die Bedürfnisse des Klall Jisrael vergessen. Wenn wir hören, wie Führer von mächtigen Ländern - die eines Tages nukleare Waffen entwickeln könnten - darüber sprechen, Israel vom Antlitz der Erde verschwinden zu lassen, müssen wir bittere Tränen vergiessen und um Gnade flehen, dass unsere Feinde ihre Ziele nicht erreichen sollen.
Es gibt einen berühmten Passuk, den wir in der Haftara am Schabbat sagen, wenn Rosch Chodesch auf Sonntag fällt. "…und Scha’ul sagte zu Jonathan, seinem Sohn: 'Warum kam der Sohn von Jischai (David) nicht – nicht gestern und nicht heute – zum Brot (el haLachem)' [Schmuel/Samuel I, 20:27]. Homiletisch wird dieser Passuk so interpretiert: 'Warum kommt der Sohn von Jischai (Maschiach) nicht – weder gestern noch heute?' Wir beten Jahr für Jahr um Maschiach, und er kommt nicht. Warum? Die Antwort ist: 'el haLechem' – weil wir in unseren Gebeten immer wieder nur um Brot bitten, anstatt um Maschiach zu bitten. Wir sind interessiert, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Darauf konzentrieren wir uns in unseren Gebeten. Daher werden unsere Gebete erhört und wir bestreiten unseren Lebensunterhalt. Wir dawenen jedoch nicht genügend für das Kommen von Maschiach. Würden wir dies tun, zumindest wie wir um unser Brot bitten, wären diese Gebete mittlerweile auch schon erhört worden.
Wir müssen dawenen, nicht nur für unsere persönlichen Bedürfnisse, wir benötigen vielmehr eine Makro-Perspektive immel und haben zu einer gewissen Zeit und an einem H
. Wir müssen uns bewusst sein, dass das jüdische Volk sich in Gefahr befindet. Es benötigt keine Phantasie unsererseits, um sich vorzustellen, "was schiefgehen könnte", "was dem jüdischen Volk geschehen könnte". Man muss nur die Zeitung lesen oder die Nachrichten hören. Sieht, was sie im Iran und in div. anderen arabischen Ländern sagen. Wenn wir nur an 'el haLechem' (unseren Bedürfnissen des Brotverdienens) interessiert sind, ist dies der Grund, dass der "Sohn von Jischai" noch nicht gekommen ist.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Rabbi Jisrael Ba’al Schem Tov (1698-1760), Gründer der chassidischen Bewegung, Medschibosch, Ukraine.
- Rabbi Chajim Kanievsky (geb. 1928 in Weissrussland); Benej Berak, Israel. Einer der grössten zeitgenösischen Tora-Gelehrten. Sohn vom berühmten Rabbi Ja’akow Jisrael Kanievsky (bekannt als der „Steipler“).
- Rav Aryeh Zev Ginzberg, zeitgenössischer Rabbiner. Rabbiner von The Chofetz Chaim Torah Center of Cedarhurst, N.Y. USA
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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