Perspektiven zu Rosch Haschana 5783
Aus Sefer Hatoda’a / Das Jüdische Jahr. Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Rosch Haschana – zwei Tage – warum?
Rosch Haschana wird zwei Tage lang gefeiert, am ersten und am zweiten Tischri, obwohl in der Tora nur von einem Tag die Rede ist: "Im siebten Monat, am ersten Tag des Monats, soll euch ein Tag der Ruhe, der Erinnerung durch den Schall des Schofars, Tag der heiligen Berufung sein" (Wajikra, 23, 24).
Die Bestimmung, Rosch Haschana zwei Tage lang zu feiern, wurde schon von den Newi'im Rischonim – den ersten Propheten – festgelegt [Jeruschalmi, Eruwin, Perek 3 Halacha 9]. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass der neue Monat dauernd durch Zeugenaussagen vom Obersten Gerichtshof bestimmt und geheiligt wurde. Diese Zeugen mussten das Erscheinen des "Molad" – des Neumondes – gesehen haben und dies vor dem Gerichtshof bezeugen. Deshalb musste der Beginn des Monats Tischri – Rosch Haschana - sofort beim Eintritt der Nacht, nach dem 29. Elul (dem vorangehenden Monat), festgelegt werden, da die mögliche Ankunft von Zeugen am Morgen des nächsten Tages eine Heiligung des Vorabends verursachen könnte.
Kamen solche Zeugen, dann war dieser selbe Tag "Kodesch" – heilig – und der nächste Tag wäre dann "Chol", ein gewöhnlicher Wochentag. Wenn aber den ganzen Tag durch keine Zeugen kamen, so war der darauffolgende Tag automatisch "Kodesch", und der vorherige Tag wäre dann ein gewöhnlicher Wochentag (30. Elul) gewesen. Damit nun die Heiligkeit des ersten Tages des Zweifels wegen nicht missachtet werde, ordneten die Propheten an, dass Rosch Haschana immer zwei Tage lang gefeiert werden muss. Werkverbot, Schofarblasen und Gebetsordnung, sowie alle anderen Einzelheiten der Festordnung sind für beide Tage bindend. Beide Tage zusammen werden "Joma Arichta" – ein langer Tag – genannt, das heisst, dass die zweimal vierundzwanzig Stunden als ein geheiligter Tag gerechnet wird, nicht als zweifelhafte, sondern als gewisse Heiligkeit. Bei der Vorbereitung der Mahlzeiten werden sie jedoch als zwei Tage betrachtet, es ist also nicht erlaubt, von einem Tag auf den nächsten Tag zu kochen.
Der Rambam – Maimonides – schreibt [Hilchot Kiddusch Hachodesch, Kap. 5, 7-8]: "Die Mehrzahl der Bewohner des Landes Israel pflegten den "Jom Tow" (Feiertag) von Rosch Haschana des Zweifels wegen zwei Tage lang zu begehen, denn sie wussten nicht, auf welchen Tag der Gerichtshof in Jeruschalajim den Monatsanfang festgesetzt hatte, da ja die Boten am Feiertag selbst nicht hinausgehen durften, um allen den exakten Monatsanfang zu verkünden.
Fernerhin, sogar in Jeruschalajim, Sitz des Gerichtshofes, wurde Rosch Haschana sehr oft zwei Tage lang gefeiert. Wenn nämlich die Zeugen während des 30. Tages nicht erschienen, wurde der Tag in Erwartung der Zeugen als heilig gehalten, und auch der nächste Tag war dann unweigerlich heilig (nie kann ein Monat mehr als 30 Tage haben). Da man zwei Tage lang feierte, auch wenn der Monat anhand von Augenzeugen bestimmt wurde, setzte man fest, dass Rosch Haschana auch in Erez Jisrael zwei Tage lang gehalten werden müsse, selbst heute, wo der Monatsbeginn durch Berechnung festgelegt ist. Daraus lernt man, dass der zweite Tag Rosch Haschana heutzutage "MiDiwrej Sofrim" – eine Anordnung der Weisen – ist."
Es besteht aber ein Unterschied zwischen der Zeit, da man die Monate durch Augenzeugen festgelegt hat, und zwischen der heutigen Zeit. Als der Monat noch durch Augenzeugen geheiligt wurde, und die Zeugen, die den Neumond gesehen hatten, nicht zur rechten Zeit erschienen waren, war der erste Tag von Rosch Haschana "MideRabbanan" – als Anordnung der Weisen - bestimmt, der zweite Tag jedoch, der erste Tischri, "Min Hatora" – als Toragesetz – festgesetzt. Heute jedoch, da die Monate und Feiertage durch Berechnungen festgelegt werden, und der erste Tag von Rosch Haschana immer auf den ersten Tischri fällt, gilt der erste Tag "Min Hatora" und der zweite "MiDiwrej Sofrim (Anordnung der Weisen)".
Der Tag des Gerichtes
Rosch Haschana ist der Tag des Gerichtes für alle Sterblichen dieser Welt. An diesem Tag wird der Mensch gerichtet, und alles, was ihm im kommenden Jahr geschehen soll, wird an diesem Tag bestimmt. Denn so heisst es: "Die Augen des Ewigen, Deines G"ttes, sind stets auf das Land gerichtet vom Anfang des Jahres bis zu seinem Ende" [Dewarim 11, 12]. "Am Beginn des Jahres wird geurteilt, was am Ende sein soll!" [Rosch Haschana 8a].
Auch von der Art und Weise, wie G"tt Sein Volk beurteilt, sprechen unsere Weisen: "Alle Bewohner der Welt ziehen an Ihm vorüber wie Schafe – Kiwnej Maron" [Rosch Haschana 16a]. Sie ziehen vor ihm einzeln vorbei, einer nach dem anderen (die Taten eines jeden einzelnen werden genau geprüft), dennoch werden alle gemeinsam im gleichen Moment gerichtet, wie es heisst [Tehilim/Psalm 33:15]: "Er, Der ihr Herz gemeinsam bildet, Der alle ihre Taten versteht". G"tt, der Schöpfer, sieht in die Herzen eines jeden zu gleicher Zeit und versteht alle ihre Taten.
Rabbi Kruspedal sagte im Namen von Rabbi Jochanan: "Drei Bücher werden am Rosch Haschana geöffnet: Das eine für Rescha’im Gemurim (Bösewichte), eines für die Zaddikim Gemurim (Fromme, Gerechte), und eines für die Bejnonim (Mittelmässigen). Die Zaddikim Gemurim werden sofort ins Buch des Lebens eingeschrieben und besiegelt. Die Rescha’im Gemurim werden sofort zum Tode verurteilt und so eingeschrieben; die Bejnonim aber erhalten eine Frist bis Jom Kippur, dem 10. Tischri. Wenn sie es verdienen, d.h. wenn sie sich zu Teschuwa (zur Rückkehr) besonnen haben, werden auch sie in das Buch des Lebens eingeschrieben. Wenn aber nicht, sind auch sie zum Tode verurteilt [Rosch Haschana 16b].
Aus zwei Gründen wird Rosch Haschana als "Jom HaDin" (Tag des Gerichts) betrachtet. Erstens, weil an diesem Tag die Schöpfung vollendet wurde (es war der sechste Tag der Schöpfung), und G"ttes Plan es war, die Welt mit "Middat HaDin" – mit Recht und Strenge – zu regieren. Zweitens, weil an diesem Tag der erste Mensch sündigte, gerichtet wurde, seine Schuld einsah, Teschuwa tat und G"tt ihm verzieh. "Dies sei ein Zeichen für deine Kinder - sagte G"tt zu ihm - genau wie du an diesem Tag verurteilt wurdest, aber dir auch vergeben wurde, so werden auch deine Kinder an diesem Tag gerichtet werden, aber auch Verzeihung erhalten".
Diese beiden Gründe werden auch im Mussafgebet von Rosch Haschana erwähnt: "Du bringst herbei das festgesetzte Gedenken, an dem bedacht wird jeder Geist und jede Seele, dass der vielen Taten gedacht wird und der endlosen Fülle der Geschöpfe. Von Anbeginn hast du so kundgetan und von Anfang an dies enthüllt. Heute ist der Tag des Anbeginns Deiner Werke, eine Erinnerung an den ersten Tag." Somit ist dieser Tag Erinnerung an die Vollendung der Schöpfung und gleichzeitig Erinnerung an den ersten Tag des Gerichts.
Unsere Weisen fügen hinzu: Komme und schau: G"ttes Wege sind nicht die Wege von Fleisch und Blut. Der Mensch aus Fleisch und Blut richtet seinen Freund in einer günstigen Zeit, wenn er ihm wohlgesinnt ist. Den Feind hingegen richtet er, wenn er zornig auf ihn ist, um ihn mit Strenge zu verurteilen. Nicht so G"tt: Er richtet die ganze Welt auf einmal, und es sind auch diejenigen miteinbegriffen, die Seinen Willen nicht beachten, also alle zusammen in einer günstigen Zeit, nämlich im Monat Tischri. In diesem Monat gibt es viele Feste und viele Mizwot zu erfüllen. Sie bieten somit Gelegenheit, die innige Verbindung zwischen Ihm und Seinen Geschöpfen wiederherzustellen. So können sich die Menschen im Gebet und durch Rückkehr wieder zu Ihm wenden. G"tt wird Sich auch ihnen wieder in Liebe zuneigen.
Schuld und Verdienste des Menschen auf der Waage
Jeder Mensch hat Verdienste aber auch Schuld. Sind die Verdienste grösser als die Schuld, so spricht man von einem Zaddik, einem Gerechten. Ist die Schuld grösser als die Verdienste, so nennt man ihn Rascha, einen Bösen. Ist beides im Gleichgewicht, so spricht man von einem Bejnoni, einem Mittelmässigen.
Das gleiche gilt auch für Länder. Sind die gemeinsamen Verdienste der Bewohner grösser als ihre Schuld, ist es ein gerechtes Land. Ist die Schuld grösser als die Verdienste, ist es ein schändliches Land.
All dies bezieht sich auch auf die ganze Welt.
Ist die Schuld eines Menschen grösser als seine Verdienste, muss er sofort wegen seiner Sünden sterben, denn es steht geschrieben: "…al Row Awoncha – wegen der Überzahl deiner Schuld…" [Hoschea 9:7]. Ist die Schuld eines Landes grösser als seine Verdienste, so ist es dem Untergang geweiht, denn es steht geschrieben: "Sa'akat Sedom wa'Amora ki Rabba – das Wehgeschrei von Sedom und Amora ist gross" [Bereschit 18, 20]. Dies gilt auch für die ganze Welt, denn es steht geschrieben: "Wajar Haschem ki Rabba Ra'at ha'Adam – und G"tt sah, dass das Böse der Menschen gross war" [Bereschit 6, 5].
Das Ausschlaggebende ist hierbei nicht das Zahlenmässige, sondern das Ausmass des Guten und des Bösen. Es gibt Verdienste, die schwerer wiegen als eine grosse Anzahl von Sünden, so wie es heisst: "Ja'an nimza bo Dewar Tow el Haschem – weil an ihm (Jarow’am – sündiger König Jisraels) Gutes gegenüber G"tt gefunden wurde" [Melachim/Könige I, 14, 13]. Aber auch umgekehrt kann eine Schuld schwerwiegender sein als viele Verdienste, denn es steht geschrieben: "WeChote echad je’abed Towa harbe – und eine Sünde lässt viel Gutes verlorengehen" [Kohelet/Prediger 9, 18]. Nur G"tt, Dessen Wissen allumfassend ist, kann entscheiden, welche Wertmassstäbe anzulegen sind, wenn es darum geht, Schuld und Vergehen abzuwägen.
Darum sollte sich jeder Mensch während des ganzen Jahres so betrachten, als sei er halb schuldig und halb verdienstreich. Auch die Welt sollte er so betrachten, als sei sie halb schuldig und halb verdienstreich. Wenn er sich dann durch irgendeine Tat schuldig macht, so hat er nicht nur die Waagschale seines eigenen Schicksals belastet, sondern die der ganzen Welt, und könnte so deren Zerstörung verursachen, genau wie den Verlust seines eigenen Lebens. Hat er hingegen eine Mizwa erfüllt, so ist es möglich, dass er das Zünglein der Waage für sich selbst und für die ganze Welt entscheidend bewegt hat, und zu seiner Errettung, so wie auch zur Rettung der ganzen Welt beigetragen hat. So steht geschrieben: "WeZaddik Jessod Olam – und der Gerechte ist der Grundpfeiler der Welt" [Mischlei 10, 25]. Wer das Rechte tut, hat für die ganze Welt Verdienst errungen und sie gerettet [Rambam Hilchot Teschuwa Kap. 3, 1-5].
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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