Rav Frand zu Rosch Haschana 5784
Ergänzungen: S. Weinmann
Chanas Botschaft an das jüdische Volk
Im Traktat Berachot [29a] sagt der Talmud, dass wir am Rosch Haschana eine Tefilat Amida ("Schemone Esre - das stehende Gebet") von neun Berachot (Segenssprüche) dawenen (beten). Jede Tefilat Amida - das ganze Jahr hindurch - hat die gleichen drei ersten Berachot, die gleichen drei Schluss-Berachot, nur die Anzahl der mittleren Berachot variieren. Täglich sind es dreizehn mittlere Berachot, an Schabbat und Chagim (Feiertagen) gibt es nur eine mittlere Beracha. Rosch Haschana bildet hier eine Ausnahme. In der Mitte des Mussafgebets von Rosch Haschana sind es drei Berachot von Malchujot, Sichronot und Schofarot. Malchujot (Königtum) befasst sich mit der königlichen Herrschaft von G-tt, Sichronot (Gedenken), bezeugt, dass der Ewige alles gedenkt, nichts gerät in Vergessenheit und Schofarot befasst sich mit dem Blasen des Schofars, wie z.B. bei der Offenbarung am Berg Sinai und der künftigen Erlösung Israels.
Der Talmud [ibid.] sagt, dass die Quelle für die Zahl dieser Berachot – neun – von den neun Askarot, die neun Male, da G"ttes Name im Gebet von Chana [Schmuel l 2:1-10] erwähnt wird, herstammt.
Wir lesen die Geschichte von Chana [Schmuel 1:1-2:10] in der Haftara am ersten Tag Rosch Haschana. Chana war unfruchtbar. Sie kam jedes Jahr zum Mischkan (Stiftzelt) in Schilo, um sich dort auszuweinen. (Das Mischkan wurde im zweiten Jahr der Wanderschaft in der Wüste erstellt und stand während der Zeit der Geschichte von Chana in Schilo. Schlussendlich wurde das Bejt Hamikdasch durch Schlomo Hamelech, statt des Mischkans, erbaut.)
Chana erlitt die Demütigung, dass ihr Mann eine zweite Frau hatte, die mit Kindern gesegnet war, und die Chana wegen ihrer Unfähigkeit, Kinder zu haben, verspottete (wenn auch aus einem edlen Grund, weil sie Chana dazu inspirieren wollte, mehr zu beten). Chanas Gebete wurden letzten Endes am Rosch Haschana erhört. Sie brachte einen Sohn zur Welt, der der grosse Prophet Schmuel wurde.
Die Geschichte von Chana enthält eine Lektion, die für die Botschaft von Rosch Haschana so wesentlich und zentral ist, dass wir nicht nur diese Haftara am ersten Tag Rosch Haschana lesen, sondern dass auch die Anzahl der Berachat des Mussaf-Gebetes, gemäss den neun Askarot, die neun Male, da G"ttes Name im Gebet /Danksagung von Chana erwähnt wird, bestimmt wurde. Was ist an diesem Ereignis so wichtig, dass es uns dazu veranlasst, das zentrale Gebet von Rosch Haschana auf dem Gebet von Chana zu basieren?
Eine Analyse von Chanas Gebet enthüllt, dass sie betont, dass das Leben voller sich verändernden Fügungen ist. Chana sagt uns: "während die unfruchtbare Frau sieben Kinder gebar, erlitt, die viele Kinder hatte, Verluste." [ibid. 2:5]
Chana beschreibt die Tatsache, dass sie in der Vergangenheit unfruchtbar war und nun sieben Kinder gebar, währenddessen ihre Nebenfrau, Penina, viele Kinder hatte, die sie jedoch verlor. Raschi erklärt zur Stelle, etwas Erschütterndes: ‘Penina hatte zehn Kinder. Während jeder Geburt eines Kindes bei Chana, musste Penina zwei Kinder begraben. Weiter heisst es [ibid. 2:21]: "Chana gebar drei Söhne und zwei Töchter." Jedoch spricht Chana in ihrem Gebet/Danksagung von sieben Kindern? Erklärt Raschi weiter: Als Chana mit dem fünften Kind schwanger wurde, warf sich Penina zu ihren Füssen und flehte sie an, sie solle bitte für ihre zwei übriggebliebenen Kinder um Erbarmen bitten. Chana betete und als ihr fünftes Kind geboren wurde, blieben die letzten zwei Kinder von Penina am Leben. Deshalb – sagt Raschi – werden diese zwei Kinder auch der Chana hinzugerechnet, deshalb spricht Chana in ihrem Gebet von sieben Kindern.’
Channa sagt weiter: "Haschem macht Leute arm und andere Leute reich. Er erniedrigt die Hochmütigen und erhebt die Demütigen. Er erhebt den Mittellosen aus dem Staub und erhöht den Armen aus dem Misthaufen…" Schicksale verändern sich.
(In den letzten Wochen fand ich ein neues Mussar-Sefer (Buch über Ethik), das auf mich eine starke Wirkung hatte. Das "Mussar-Sefer" ist das Wirtschaftsteil einer Zeitung. Man liest dort von Leuten und Institutionen, die hoch im Kurs standen und plötzlich feststellen, dass sich ihr Schicksal gewendet hat. Andere Leute, die nichts hatten, wurden plötzlich über Nacht Millionäre.)
Chana warnt und sagt [2:3]: "Al tarbu tedabru gewoha gewoha…" - Ihr Mächtigen - redet nicht mit Hochmut… "Keschet Giborim chatim weNichschalim osru Chajil" - Der Bogen der Starken ist zerbrochen und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke. [2:4].
Dies ist Chanas Botschaft an das jüdische Volk am Rosch Haschana: Das Leben ist so unbeständig. Schicksale sind so zerbrechlich. Rosch Haschana ist ein unglaublich beängstigender Tag!
Gefühlsmässig ist Rosch Haschana einer der schwierigsten Tage des Jahres. Wir können mit Jom Kippur leichter umgehen. Wir essen nicht. Es ist ein Tag der Gnade. Wir grenzen uns von der restlichen Welt ab und wir schütten unser Herz aus. Was wird jedoch von uns am Rosch Haschana erwartet?
Rosch Haschana ist der Jom Hadin (der Tag des Gerichts). Alles geschieht an diesem Tag. Und doch haben wir eine Pflicht, diesen Tag als einen Festtag zu begehen, uns verhalten und essen wie an einem Feiertag. Wie geht man mit diesem Zwiespalt um?
Rabbi Zadok Hakohen von Lublin weist daraufhin, dass die Schewarim und Teruot, die gebrochenen Töne des Schofars, die das Weinen eines gebrochenen Geistes darstellen, immer zwischen zwei Tekiot geblasen werden müssen. Der kräftige, ungebrochene Tekia Ton stellt Simcha (Freude) dar. Dies erfasst laut Rabbi Zadok das Thema des Tages.
Nach aussen hin müssen wir handeln und uns fühlen, wie wenn es ein Jomtow ist. Im Innern jedoch – zwischen den Tekiot – müssen wir eine schreckliche Angst empfinden: eine Angst, dass irgendetwas geschehen kann. Wenn jemand dies nur eine Minute lang bezweifelt, sollte er nur auf die vergangenen Jahre zurückdenken. Man denke an das, was in der Welt geschah, was Einzelpersonen geschah, was Gemeinden geschah. Es ist so beängstigend!
Dies ist, was Chana uns zu sagen versucht. Manchen Leuten wird dieses Jahr das grösste Leid bringen, und für andere wird es ein Jahr sein, in dem die "unfruchtbare Frau" eine Mutter von sieben Kindern wird.
Chasal sagen, dass die hundert Schofartöne, die wir am Rosch Haschana blasen, den 100 Angstrufen entsprechen, die Sissras Mutter am Tag des Kampfes schrie [Schoftim 5:28-39, basierend auf dem Midrasch]. Raw Schwab stellte die Frage: Was bedeutet die Verbindung zwischen unseren Schofartönen mit dem Geheul von Sissras Mutter? Raw Schwab erklärte, dass das Geheul von Sissras Mutter die Unsicherheit der Zukunft darstellte. Falls Sissra siegreich zurückgekommen wäre, hätte dies den grössten Triumph seiner militärischen Karriere dargestellt. Andererseits könnte er auch in einem Sarg heimkommen. Sissras Mutter wusste nicht, welches Szenario das wahre sein würde, deshalb heulte sie aus Unsicherheit und Angst.
Leben und Tod. Erfolg und Misserfolg. Am Rosch Haschana hängt alles in der Schwebe – und nichts weniger als die gänzliche Veränderung unserer Schicksale. Und trotzdem müssen wir als Juden diese Emotionen mit der Tekia umgeben – dem kräftigen Ton der Zuversicht.
Wir können unsere Gefühle nicht nach aussen zeigen. Wir müssen jedoch realisieren, dass das, was an diesem Tag beschlossen werden wird, nichts anderes als das Schicksal unseres Lebens, das Leben unserer Familie, das Leben unserer Gemeinde und in der Tat das Leben der ganzen Welt sein wird. Alles kann geschehen. Dies ist, was Chana uns sagt. Man kann nichts als gegeben annehmen, es gibt keine "Chasakot" (angenommene Rechte basierend auf historischen Präzedenzfällen), nichts kann als sicher angenommen werden.
Möge es G"ttes Wille sein, dass wir – zusammen mit ganz Klall Jisrael – für ein gutes, langes und friedliches Leben eingeschrieben werden.
Quellen und Persönlichkeiten:
Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
Rabbi Zadok Hakohen Rabinowitsch – Rubinstein von Lublin (1823 - 1900). Chassidischer Weiser und Denker; einer der führenden Tora-Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Sein Denken zeichnet sich durch eine Kombination aus gewaltiger Tora-Wissenschaft und den Lehren der Kabbala und des Chassidismus aus. Er gehörte zu den Chassidim von Rabbi Mordechai Josef Leiner, den „Isbizer Radsiner Chassidim“ und zu Rabbi Jehuda Leib Eigers „Lubliner Chassidim“. Erst als seine Rebbes die Welt verliessen, willigte er ein, die Bürde eines chassidischen Rabbis auf sich zu nehmen. Man erzählt über ihn, dass er nie essen wollte, bis er nicht einen Traktat des Talmuds zu Ende gelernt hatte und einen Sijum machen konnte. Das geschah in der Regel jeden Abend! Mit siebzehn Jahren verfasste er bereits sein erstes Werk. Danach folgten unzählige weitere, wie die bekannten Werke Pri Zaddik, Zidkat Hazaddik, etc. Leider ging ein Teil seiner Werke, als Manuskripte, im Holocaust verloren.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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