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Sukkot

Perspektiven zu Sukkot 5784

 

Sukkot: Jüdische Schönheit – anders als man denkt

 

Von Raw Joshua Shmidman

Aus DJZ, 14. Tischri 5770 / 2. Okt. 2009

Ergänzungen: S. Weinmann

 

Jede Zivilisation und jedes philosophische System sucht nach einer Erklärung des Begriffs "Schönheit". In der westlichen Denkweise gilt die "Suche nach dem Schönen" als so grundlegend wie das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit. Die zeitgenössische Kultur wurde von dieser Anschauung stark beeinflusst. Bis zum heutigen Tag bildet das Streben nach Schönheit eine dominierende und gewünschte Komponente einer idealen Person – ein Ideal, das nachdrücklich verfolgt werden soll.

Auf den ersten Blick scheint es, dass eine solche Schönheitsverehrung nicht im Zentrum des jüdischen Denkens steht. Der oft gebrauchte Ausdruck "weHewel haJofi - Nichtig ist die Schönheit"  (Mischlej / Sprüche 31:30) scheint diese, oberflächlich betrachtet, in ein negatives Licht zu setzen.

Das ist aber falsch. Schönheit hat in der jüdischen Weltanschauung ihren Platz. Wir müssen nur einsehen, dass Schönheit im Judentum etwas Einzigartiges bedeutet – etwas völlig anderes als in anderen Systemen.

Wodurch unterscheidet sich der jüdische Schönheitsbegriff vom allgemein gültigen? Suchen wir in der Tora nach Quellen für ein jüdisches Verständnis für Schönheit. Die Tora fordert uns auf (Wajikra 23:40) "Und du sollst am ersten Tag (Sukkot) ‘Peri Ejz Hadar - die Frucht eines schönen Baumes’ nehmen".

Die Gemara (Talmud Traktat Sukkot 35a) versucht zu erklären, was "ein schöner Baum" bedeutet, indem sie das hebräische Wort "Hadar" analysiert. Die Chachamim ziehen den Schluss, dass es sich um den Etrog-Baum handelt, da das Wort "Hadar" als Frucht gedeutet wird, die "fortgesetzt das ganze Jahr hindurch auf dem Baum bleibt" ("ha-dar, das wohnt, verweilt"). So verstanden bedeutet der Ausdruck "dar" einen Gegensatz zu einer temporären oder unterbrochenen Residenz. Stattdessen weist er auf Permanenz hin, auf Dauer, ein fortgesetzter Prozess während langer Zeit (wie "durée" auf Französisch oder "duration" auf Englisch).

Der Etrogbaum erfüllt die Anforderung der permanenten Existenz, da die meisten anderen Früchte saisonal hervorkommen. Der Etrog aber wächst, blüht und bringt seine Früchte das ganze Jahr hindurch. Bei Hitze und Kälte, Wind oder Sturm bleibt er bestehen! Er hält durch! Und aus jüdischer Sicht ist das der Grund, warum er schön ist.

Schönheit bedeutet daher die unbezwingbare Kraft des Lebens, das Streben nach dem Leben – trotz aller Schwierigkeiten. Es ist die Bekräftigung des Siegs von Leben über Tod, die Suche nach der Ewigkeit.

In diesem Licht können wir eine weitere Mizwa der Tora verstehen. In Bezug auf die Pflicht, das Alter zu ehren, sagt die Tora (Wajikra 19:32): "weHADARta Penej Sakejn", was gewöhnlich als "Ehre das Angesicht einer älteren Person" übersetzt wird. Das Wort "hadar" bedeutet aber wirklich "Schönheit", sodass der Passuk uns eigentlich auffordert, dem alten Gesicht des Menschen Schönheit zuzuschreiben.

Was ist an einem alten Gesicht so schön? Dieser Gedanke allein widerspricht der grundlegenden Einstellung westlicher Kultur, die seit der Zeit der antiken Griechen Schönheit schon immer mit Jugend in Verbindung setzte. In der zeitgenössischen, westlichen Welt ist die gesamte Kosmetikindustrie darauf ausgerichtet, die Leute jung erscheinen zu lassen, wenn sie gut aussehen möchten. Es geht darum, ein altes Gesicht äusserlich zu verjüngen.

Dennoch schreibt die Tora einem alten Gesicht Schönheit zu, genau deshalb, weil es die fortgesetzte Überwindung des Lebens und das Bestehen der Prüfungen des Lebens ausdrückt.

Wie viel Entschlossenheit, Mut und Lebenswillen erkennt man in einem alten Gesicht! In dieser Beziehung sagt uns die Gemara (Traktat Kidduschin 33a): "Rabbi Jochanan pflegte sich sogar vor betagten aramäischen Heiden zu erheben und zu sagen: "Wie viel Leid haben diese erlebt (Raschi fügt hinzu: und diese haben sicherlich auch übernatürliche Dinge und viele Wunder gesehen)." Die Tora erwartet von uns, eine ältere Person nicht so zu betrachten, als würde sie allmählich in Vergessenheit geraten, sondern diese als Beweis für den unnachgiebigen Drang zum Leben anzusehen, der Sehnsucht der unsterblichen Seele, die in jeder Person verborgen liegt.

Aus unserer Sicht ist Schönheit daher nicht isoliert zu verstehen. Es ist kein Versuch, wie bei anderen ästhetischen Systemen, nur "den Moment zu erfassen", und damit die Jugend zu verherrlichen und zu versuchen, diese für alle Zeit zu erhalten. Im Judentum enthält Schönheit eine grundlegende historische Definition: Die Erfahrung, den ewigen Fluss der vorbeigehenden Zeit zu verstehen.

In ähnlicher Weise wird die Menora (Leuchter) des heiligen Bejt Hamikdasch (Tempel), die zum Symbol des jüdischen Volkes an sich wurde, in der Tora als "Ner Tamid - ein permanentes Licht" bezeichnet. Wie es steht: "Und du (Moses) sollst den Kindern Israels gebieten, dass sie dir reines Olivenöl bringen, um ein ‘Ner Tamid – ein dauerndes Licht’ aufsteigen zu lassen (Schemot 27:20).

Die Chachamim erklären im Midrasch, dass die Olive – die gepresste Olive – deren Öl fortgesetzt brennt, das wahre Symbol Jisraels ist. Der Midrasch zitiert den Passuk in Jirmijahu (11:16): "Der Ewige nannte deinen Namen (Jisrael) einen frischen, blattreichen Olivenbaum, prächtig, mit herrlichen Früchten", und der Midrasch fragt: "Warum wird Jisrael mit einem Olivenbaum verglichen?"

Die Antwort darauf ist, dass Jisrael zahlreiche grundlegende Eigenschaften hat, die der Frucht des Olivenbaums ähnlich sind. Die Olive wird geschlagen, gepresst, zerdrückt, worauf sie ihr Öl gibt, das ein wachsendes Licht emporscheinen lässt. So verhält es sich auch mit dem Volk Jisrael: Trotz aller Unterdrückung, Grausamkeit und Exil, die es heimsuchen, wird es nicht zerstört, Stattdessen glänzt es immer heller herrlich weiter.

Es ist von Bedeutung, dass Jirmijahu in dem erwähnten Abschnitt nicht nur die jüdische Beharrlichkeit angesichts allen Leides kundgibt, sondern diese Qualität als den eigentlichen Ursprung von Jisraels Schönheit definiert: "Ein frischer, blattreicher Olivenbaum, prächtig, mit herrlichen Früchten…"

Wenn wir das Lernen einer Messechta (Traktat) der Gemara beenden, sagen wir "Hadran alach – wir werden zu dir zurückkehren". Wir sagen, dass unser Studium und das Wissen, das wir erwarben, nicht einfach der Vergangenheit angehören. Stattdessen werden wir stets zu diesem zurückkehren, es wieder erleben, verjüngen und im früher Gelernten neue Bedeutung finden. Das Wort "Hadran" an sich, das der Wurzel "hadar" ähnlich ist, hat also, wie wir jetzt verstehen, grundsätzlich dieselbe Bedeutung wie "Hadar": Stets durchzuhalten und Schönsein ist gleichbedeutend!

Das Sukkotfest verkörpert die eigentlich widersprüchliche Idee, dass wir einerseits die temporäre und vergängliche Natur menschlicher Existenz auf der Erde anerkennen müssen, indem wir sieben Tage lang in provisorischen Sukkot leben, doch gleichzeitig die Unsterblichkeit und das Leben Jisraels bestätigen, indem wir den dauerhaften Etrog ergreifen. Die Verknüpfung dieser gegensätzlichen Elemente schafft den Rahmen, um das Schöne richtig zu verstehen und zu erleben. Die Entdeckung, Bestätigung und der Kampf angesichts unerbittlicher Schwierigkeiten, angesichts der Wandlungsfähigkeit und des Todes an sich, um das Ewige zu realisieren, schafft den jüdischen Sinn für Schönheit.

Die wirkliche Schönheit Jisraels liegt im Triumph seines ewigen Bestehens.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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