Der Monat Aw
(Aus Sefer Hatoda’a / Das Jüdische Jahr. Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann)
Monat Aw – Monat Menachen Aw
Aw ist der fünfte Monat des Jahres, wenn man von Nissan an zu zählen beginnt. So wird er auch in der Tora genannt: "Waja'al Aharon Hakohen el Hor Hahar... – Und es stieg Aharon, der Priester zum Berg Hor Hahar hinauf und starb dort im vierzigsten Jahre nach dem Auszug der Söhne Israels aus dem Land Ägypten im fünften Monat am ersten des Monats." [Bamidbar 33, 38] Der Name Aw ist babylonischer Abstammung.
Man nennt ihn auch "Menachem Aw", der tröstende Aw, weil man nach der Zerstörung des Tempels, die in diesem Monat geschah, Trost erwartet. Manche sehen in dieser Bezeichnung auch eine Anspielung auf Megillat Ejcha - die Rolle Ejcha (Klagelied), die nach dem Alef-Bejt angeordnet ist. „Menachem“ „A-W“ (=Alef Bejt/Wejt), es ist der Monat, in welchem der Heilige, gelobt sei Er, einst Sein Volk trösten wird, im Monat, in welchem die Megillat Ejcha, die Rolle A-W (nach Alef Bejt geordnet), gelesen wird.
Eine weitere Auslegung für „A-W“ (=Alef Bejt) bezieht sich auf die zwei Völker, die unsere Heiligtümer zerstört haben: Alef - steht für Edom (im Hebräischen mit Alef geschrieben) - die Römer, und Bejt für Bawel, Babylonien.
Beim Datieren der Briefe, die man im Monat Aw schreibt, wird bis zum neunten des Monats, "Aw" geschrieben, nach diesem Datum wird er "Menachem Aw" benannt. Das Sternzeichen des Monats ist der Löwe.
Als in früheren Zeiten das Bejt Din - der Gerichtshof - den Monat heiligte, wurden Boten ausgesandt, die das Erscheinen des Neumondes bezeugen mussten. Die Boten wurden an weit entfernte Orte geschickt, um Rosch Chodesch Aw zu verkünden, damit man das Datum des neunten Aw, des Fasttages auf den Tag genau einhalte.
Rosch Chodesch Aw hat nur einen Tag, da der vorangehende Monat Tamus "unvollständig" ist, d.h. nur aus 29 Tagen besteht. Der Monat Aw ist "vollständig", er hat 30 Tage. Der neunte Aw ist zwar ein Fasttag, wird aber in der Megillat Ejcha „Mo'ed“ – das auch „Festtag“ heisst, genannt, denn einst wird der Heilige, gelobt sei Er, diesen Trauertag in einen Tag der Freude und des Jubels verwandeln.
Rosch Chodesch Aw ist ein "Ta'anit Zaddikim", ein Fasttag für die Frommen und Gerechten. Es ist der Tag, an dem der Hohepriester Aharon starb. Obwohl es Rosch Chodesch ist, wird dieser Tag von manchen als Fasttag begangen, und auch solche, die nicht fasten, begehen ihn als besonderen Trauertag im Andenken an Aharons Tod.
Mischenichnas Aw... - Wenn der Monat Aw beginnt...
Wenn der Monat Aw beginnt, wird jegliche Freude vermieden. Dieser Monat war in der jüdischen Geschichte von jeher schicksalsschwer, darum soll man es vermeiden, in diesem Monat Gerichtsverhandlungen festzusetzen. Wenn dies für den ganzen Monat unmöglich ist, soll man wenigstens bis und mit Tisch‘a BeAw, dem neunten des Monats, keine Prozesstermine festsetzen. Alle freudigen Anlässe sollen unterbleiben, man soll noch nicht einmal Bäume pflanzen, die Schatten spenden oder guten Duft geben. Auch Häuser bauen sollte man nur, wenn es zu Wohnzwecken dringend nötig ist.
Man soll in diesen Tagen weder einkaufen, nähen, stricken, neue Kleider besticken, sogar, wenn man die Absicht hat, sie erst nach Tisch‘a BeAw anzuziehen. Auch sollte man keine gebrauchten Kleidungsstücke kaufen, wenn man sie wegen besonderer Schönheit gerne haben möchte. Das Kaufen neuer Kleider ist sogar strenger untersagt als das Anziehen.
All diese Einschränkungen beziehen sich nur auf Dinge, die sich nicht auf eine Mizwa beziehen. Handelt es sich jedoch beim Bau eines Hauses oder beim Einkauf des Hausrates um die Gründung einer neuen Familie, so ist dies erlaubt.
Wenn man sicher ist, dass man nach Tisch‘a BeAw mehr für die Ware bezahlen muss, so darf man sie kaufen, jedoch neue Kleidungsstücke nicht anziehen.
Vom ersten Aw an darf man keine Wäsche mehr waschen, sogar, wenn man sie erst nach Tisch‘a BeAw benutzen will. Wer jedoch nur ein Kleidungsstück besitzt, darf es waschen, sogar nach Rosch Chodesch Aw, bis zur Woche, in die Tisch‘a BeAw fällt. In der Woche von Tisch‘a BeAw ist dies jedoch untersagt.
Wenn jemand sehr stark schwitzt und seine Kleidung oft wechseln muss, soll er sich vor Schabbat einige Kleidungsstücke vorbereiten, sie am Schabbat kurz anziehen, und so kann er sie dann in der Mitte der Woche wieder benützen.
Es ist Erwachsenen nicht erlaubt, die eigenen Haare wie die ihrer Kinder zu schneiden, und dies vom 17. Tamus an. Ab Rosch Chodesch Aw sollen auch die Kleider der Kinder nicht gewaschen werden. Säuglingswäsche darf gewaschen werden, sogar in der Woche von Tisch‘a BeAw. In jedem Fall soll man dies in kleinen Mengen und nicht öffentlich tun. Man darf keine neuen Schuhe anziehen. Spezielle Schuhe für Tisch‘a BeAw, (die nicht aus Leder sind) dürfen sogar, wenn sie neu sind, angezogen werden.
Man darf Verlobungen feiern, jedoch keine Verlobungsmahlzeit veranstalten.
Ab ersten Aw darf man kein Fleisch essen, ebenso keinen Wein trinken, weil Opfer und Gussopfer wegen der Tempelzerstörung nicht mehr dargebracht werden. Es ist Sitte, auch kein Gericht zu essen, worin Fleisch gekocht und entfernt wurde. Es ist jedoch erlaubt, Speisen, die in einem fleischigen Topf gekocht wurden, zu essen.
Bei einer Se'udat Mizwa, wie z.B. bei einer Berit Mila, bei der Auslösung des Erstgeborenen oder einem Sijum - bei der Beendigung des Lernens eines Traktats im Talmud, bei einer Bar-Mizwa-Feier oder dgl. ist es erlaubt, Fleisch zu essen und Wein zu trinken.
Tisch'a BeAw - Ein Tag der Schuld
Unsere Weisen sagten (Mischna Ta'anit Kap. 4, 5): Fünf Ereignisse geschahen unseren Vätern am Tisch’a BeAw:
- 1. Zur Zeit der Wüstenwanderung wurde unseren Vätern an diesem Tag die Strafe verhängt, nicht in das Gelobte Land ziehen zu dürfen, so wie es heisst: "Im Jir’e Isch Ba'Anaschim Ha'ejle, HaDor haRa haSe" - kein Mann unter diesen Männern, dieses bösen Geschlechtes, soll das gute Land sehen, das Ich euren Vätern zu geben geschworen habe [Dewarim 1, 35].
- 2. An diesem Tag fand die Zerstörung des Ersten Tempels statt.
- 3. An diesem Tag fand die Zerstörung des Zweiten Tempels statt.
- 4. An diesem Tag wurde die Stadt Betar durch die Römer eingenommen und hunderttausende Jehudim wurden niedergemetzelt und geschlachtet, bis sich ein Fluss von ihren Bluten bildete
- 5. Der Erdboden des zerstörten Jeruschalajim wurde umgepflügt. Es heisst "Zijon Sade techaresch" - Zijon wird wie ein Acker gepflügt werden [Jermijahu 26, 18].
An diesem bitteren Tag wurden unsere Väter noch von vielen traurigen Ereignissen heimgesucht, auch nach der Zerstörung des Tempels. Das grösste unter allen war die Vertreibung aus Spanien, die im Jahr 5252 (1492) stattfand. Ursprünglich hiess es in dem Vertreibungsdekret von König Ferdinand von Spanien, dass am letzten Tag des Monats Juli kein Jude mehr auf dem Boden Spaniens angetroffen werden dürfe. Es wurde ihnen dann eine Verlängerung von zwei Tagen gewährt, nämlich bis zum 2. August des Jahres. Dieser fiel auf den neunten Aw. "An eben diesem Tag zogen die Scharen G"ttes aus allen Ländern Spaniens" (aus den Schriften Abarbanels). Sie waren der Gefangenschaft, dem Schwert, der Plünderung, den Wogen des Meeres und den wilden Tieren ausgesetzt, "den zwei- und vierbeinigen"!
Obwohl unsere Generation wohl Zeuge der schrecklichen und verheerenden Vernichtung ist, die grösste Zerstörung aller Generationen, obwohl unsere Herzen von so viel Schmerz und Seufzen erkrankt sind, und die Quellen unserer Tränen vom vielen Weinen versiegt sind, ist die Erinnerung an das schreckliche Unheil, das damals das spanische Judentum traf, nicht erloschen. Niemals werden wir vergessen, dass die glücklichste und grösste jüdische Gemeinde der Diaspora ein solch furchtbares Ende nehmen musste. Nur traurige und schmachtende Reste einer einst blühenden Judenheit, unter ihnen die Marannen, blieben dort am Leben. So ging am neunten Aw das spanische Judentum für immer zugrunde. Hierzu passt der Ausspruch unserer Weisen in Ta'anit 29b: "An einem günstigen Tag kommt man in den Genuss eines Verdienstes, hingegen bringt ein ungünstiges Datum Unheilvolles".
Unnötiges Weinen
Als die Kundschafter nach vierzig Tagen des Spionierens in das Lager Israels in der Wüste Paran zurückkehrten, erzählten sie Schlechtes über das Land. "Ha’Arez ascher awarnu wah" – das Land, das wir bereisten, um es zu erforschen - ist ein Land, das seine Bewohner verzehrt [Bamidbar 13, 32]. Da murrten die Benej Jisrael in ihren Zelten und sagten: "Ana anachnu olim" – wohin sollen wir hinaufziehen? - "Achejnu hejmassu et Lewawejnu" unsere Brüder haben unser Herz entmutigt [Dewarim 1, 28].
Es geschah dies am achten Aw, am Vorabend des Tisch’a BeAw. Der Tag ging zu Ende, und die ganze Gemeinde geriet in Verzweiflung. So heisst es: "Watissa kol HaEjda wajitnu et Kolam" – da erhob die ganze Gemeinde ihre Stimme, und es weinte das Volk diese Nacht hindurch. "Es murrte über Mosche und über Aharon, alle Söhne Israels, und es sprach zu ihnen die ganze Gemeinde: Wären wir doch im Lande Ägypten gestorben oder in dieser Wüste, wären wir doch gestorben. Warum bringt uns G"tt in dieses Land, um durch das Schwert zu fallen, unsere Frauen und unsere Kinder werden zur Beute, besser wahrlich ist es, nach Ägypten zurückzukehren. Da sagte einer zum anderen: Wir wollen uns einen Anführer einsetzen und nach Ägypten zurückkehren" [Bamidbar 14, 1-4].
"Sie weinten die ganze Nacht hindurch." Rabbi Jochanan sagt, es war die Nacht des neunten Aw. Der Heilige, gelobt sei Er, sagte zu ihnen: Ihr habt nun ohne Grund geweint, daher werde Ich ihn zum Weinen für viele Generationen bestimmen." [Traktat Ta'anit 29a]
Warum weinten sie?
"Dor De’ah" - Eine Generation der "Erkenntnis" war die Generation der Wüstenwanderung. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, welch grosse Wundertaten G"tt bei Pharao in Ägypten und beim Roten Meer ihr erwiesen hatte. Es war eine Generation, vor der sich sieben Himmeln geöffnet hatte, sie hatten G"tt geschaut und Seine Stimme vernommen, als Er aus dem Feuer zu ihnen sprach. Es war eine Generation, die Brot aus dem Himmel erhalten hatte und auch Trinkwasser aus dem trockenen Felsen. Für die ganze Welt kommt gewöhnlich das Brot aus der Erde und das Wasser vom Regen des Himmels. G"tt, ihr König, verwandelte für sie die sonst öde und trockene Wüste zu einem Gan Eden (Paradies). Von schützenden Wolken waren sie umgeben, die g"ttliche Wolke begleitete sie tagsüber und ging ihnen voran, und in der Nacht die Feuersäule. G"tt war in ihrer nächsten Nähe. Er wohnte in ihrer Mitte und schlug ihre Feinde. Es war eine Generation, die sich danach sehnte, das Erbe ihrer Väter, das ihnen vom Herrn der ganzen Welt versprochen war, zu erhalten. G"tt liebte dieses Volk, vergab ihm immer wieder seine Schuld, und Er liess nicht nach, es zu lieben, sogar nach wiederholtem Verschulden. Auf Adlersfittichen trug Er sie, um sie in ihr Land zu bringen. Gestern erst hatten sie am Berge Chorew in der Sinaiwüste gestanden, und schon waren sie in der Wüste Paran, die sich nahe der Grenze ihres Erbanteils befand. Ein Weg von elf Tagen gingen sie in drei Tagen! Wie kam es zu all dem? Es war Seine Liebe zum Volk Israel und die Liebe zum Land Israel, daher verkürzte Er ihnen den Weg. So nahe am Ziel waren sie schon, "Ale! Resch – ziehe hinauf, nimm es (das Land) in Besitz" [Dewarim 1, 21] hatte G"tt ihnen zugerufen. Doch plötzlich verliert das Volk sein Vertrauen und gerät in Verzweiflung. Die Freunde verwandelt sich in Trauer, und statt jubelnd zu singen, weinen sie! Wie ist all dies zu erklären?
Vieles ist bei diesem Ereignis unverständlich. Die Kundschafter waren alle Geisteshelden, stark im Glauben. Sie bewiesen Mut, denn es war ein gefährlicher Weg. Doch sie fürchteten sich nicht davor, von den Bewohnern des Landes als Spione gefasst zu werden. Auch über körperliche Kräfte verfügten sie, denn unsere Weisen bezeugen, dass sie auf ihren Schultern schwere Lasten tragen konnten – und dies bei einem Weg von Hunderten von Kilometern! Wie kamen sie nur dazu, zu verzagen und das Volk in derartige Angst zu versetzen? Waren die Kena’aniter etwa stärker als die Ägypter?
Das ganze Volk war durch die erschreckenden Berichte der Kundschafter in Verzweiflung geraten, und alle, ausser Kalew und Jehoschua, lehnten sich auf. Es heisst nämlich: "Wajitnu kol Ha'eda" – alle erhoben ihre Stimme und weinten. "Wajilonu al Mosche we’al Aharon kol Benej Jisrael" – es murrten gegen Mosche und Ahron alle Kinder Israels, "wajomeru alejhem kol Ha’Eda lu matnu be’Erez Mizrajim…" – und es sprach zu ihnen die ganze Gemeinde, wären wir doch im Lande Ägypten gestorben… [Bamidbar 14, 1-2]. "Wajomeru kol ha’Eda lirgom otam ba’Awanim… Die ganze Gemeinde wollte sie (Mosche und Ahron) steinigen... [ibid. 14, 10]. Vier Mal wird das "kol – alle" betont. Keiner in der ganzen Gemeinde, der nicht den Glauben an G"tt verloren hätte. Wie ist es nur möglich, dass mit einem Mal die ganze Gemeinschaft Israels zu Rebellen wurde und wagte zu sagen: Wäre es nicht besser, nach Ägypten zurückzukehren?
Wenn auch die Kundschafter Schlechtes über das Land redeten, wie war es möglich, dass sich das ganze Volk Israel zu noch viel grösserer Schuld hinreissen liess, indem es sich gegen G"tt, der ihnen so viel Liebe erwiesen hatte, schwere Anschuldigungen erlaubte? Sie sagten: "Be’ssinat Haschem otanu hozianu me'Erez Mizrajim" - weil G"tt uns hasst, hat Er uns aus dem Land Ägypten herausgeführt, uns in die Hand des Emoriten zu geben, um uns zu vernichten [Dewarim 1, 27]. Wie kann ein heiliges Volk solche Reden führen? Wie kann ein kluges Volk solche Torheit sprechen?
Die ganze Angelegenheit ist so unverständlich, und da man sich so sehr darüber wundern muss, kann man sie nicht einfach nur mit Tadel für das Volk interpretieren. Selbst die Tora bezeugt, dass Israel ein weises, einsichtiges Volk sei. Es kann doch auf der Welt kein solch törichtes Volk geben, das mit einem Mal so einmütig in Wahnsinn verfällt! Für dieses schwerwiegende Ereignis muss es eine andere Erklärung geben.
"Und mit grosser Furchtbarkeit" [Dewarim 26, 8] – dies bezieht sich auf die g"ttliche Offenbarung
Hat es je Grösseres und Erhabeneres gegeben als g"ttliche Offenbarung? Hat je ein Sterblicher g"ttliche Visionen gehabt und gespürt, wie nahe ihm G"tt ist und wie sehr Er alle seine Wege leitet und behütet, in welch gütiger Weise Er ihm seine Hand öffnet und ihm seine täglichen Bedürfnisse zuteilwerden lässt? Nicht jeder spürt wie die G"ttesnähe ihm gut tut und nicht jeder empfindet diese g"ttliche Nähe mit gebührender Freude.
Man kann dies mit einem Gleichnis illustrieren. Man brachte einst einen einfachen Dorfbewohner an einen königlichen Hof, zeigte ihm alle Hofsitten und liess ihn auch in den Genuss königlicher Annehmlichkeiten kommen. Zu Beginn spürte er einen gewaltigen Genuss, obwohl er von Ehrfurcht und Beben durchdrungen war und sich fürchtete, dem König nicht genügend Anerkennung und Ehre zu zollen. Man schlug ihm vor, sich in der Nähe des Königs eine Wohnstätte einzurichten, doch wollte er dies nicht. Er fürchtete, er könne seine Pflichten dem König gegenüber nicht standesgemäss erfüllen und bat darum, ihn wieder in sein Dorf zurückzubringen.
Dem Volk Israel erging es ebenso. Sie hatten 210 Jahre lang in ägyptischem Exil verbracht. Während 86 Jahren litten sie unter grausamen Bedrängern schwere Sklaverei. Dann kam die Befreiung in Staffeln. In Ägypten selbst sahen sie bereits die G-ttliche Hand, die ihre Bedränger strafte. Noch waren sie nicht unter die g"ttliche Fittiche gelangt, denn noch hatten sie keine sie keine Gesetze erhalten. Dies geschah erst kurz vor dem Auszug aus Ägypten.
Im Augenblick, da sie der ägyptischen Autorität nicht mehr ganz unterworfen waren, erhielten sie die ersten Mizwot von Pessach und Berit Mila – der Beschneidung. Dadurch wurden sie erstmals dem Dienst des Heiligen, gelobt sei Er, unterstellt. Zu jener Stunde offenbarte sich ihnen der König aller Könige, der Heilige, gelobt sei Er. Bei der Plage des Erschlagens der Erstgeborenen war die Offenbarung noch gering, doch als die Ägypter im Roten Meer ertranken, war die Offenbarung phänomenal. Die einfache Magd erlebte dies viel intensiver als der Prophet Jecheskel in seinen Visionen! "As jaschir Jisrael" – da sang Jisrael, es war die erste Unterweisung, es war die Stunde, in der sie in G"ttes Haus eintraten, in Seinen Dienst und Glauben an Ihn. Nie wieder hatten sie eine solche Freude erlebt wie zu jener ersten Stunde. Dies ist der Grund, warum sie ihren Mund in Lobgesang öffneten, in eine Poesie, gültig bis zum heutigen Tag.
Von da an näherten sie sich G"tt immer mehr, bis sie sich voll und ganz als Söhne des g"ttlichen Palastes fühlten. Es war, als ob Er ihnen Seine Schatzkammern geöffnet hätte, als ob sie an Seinem Tisch assen, als ob sie Sein Wasser tranken. Alle Gepflogenheiten Seines Königreiches hatte Er ihnen mitgeteilt und ihnen Seine Gesetze und Verpflichtungen anvertraut.
In der Tat handelten sie nicht immer weise und kamen ihren Pflichten nicht immer nach. Da man von den Bewohnern des Palastes stets mehr erwartet als von anderen Menschen, sind sie mit strengeren Massstäben beurteilt worden, und so mussten sie die Strenge des G"ttlichen Gerichts des Öfteren spüren. Dies war auch der Grund, warum sie sich so sehr sehnten, nach Erez Jisrael zu kommen, damit sie dort in Ruhe und Frieden leben konnten. "Isch tachat Gafno wetachat Te'enato" – ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum [Melachim/Könige I, 5:5]. Sie wollten ein geordnetes Leben führen, so wie es für ein Volk natürlich ist: Brot essen, das von der Erde kommt, und Wasser trinken, das ihnen durch den Regen vom Himmel gespendet wird, nicht wie in der Wüste, wo sie Brot vom Himmel erhielten und Wasser aus felsigem Boden. In solchen Verhältnissen würden sie den Verpflichtungen gegenüber ihrem König nachkommen, doch jetzt, da sie sozusagen an Seinem Tisch speisten, konnten sie dies nicht. Er war ihnen zu nahe, und darum waren die Verpflichtungen ihm gegenüber enorm.
Von Angesicht zu Angesicht
Von dem Tag an, da der erste Mensch aus dem Gan Eden vertrieben wurde, bis zum Tikkun, der Vervollkommnung der Welt am Ende der Tage, gab es und wird es keine Generation geben, die solch eine Episode erlebt hat wie die Generation der Wüstenwanderung während der ersten fünfzehn Monate nach dem Auszug, als sie G"tt gefolgt sind. Das war vom Monat Nissan an bis zum Monat Siwan des zweiten Jahres. Die Wüste wurde für sie wie der Gan Eden (Paradies) und der Heilige, gelobt sei Er, offenbarte sich dem Volk von Angesicht zu Angesicht. Nichts fehlte im "Palast des Königs".
Der Heilige, gelobt sei Er, verlangte nur von Seinem Volk, dass es stark im Glauben und Vertrauen zu Ihm sei. Darum legte Er ihm von Zeit zu Zeit Prüfungen auf und gewährte ihm zeitweilig Seine Wohltaten nicht, damit es zu Ihm hinaufschaue und sich mit seinen Bitten an Ihn wende, nicht aber sich aus Mangel an Vertrauen gegen Ihn auflehne. Er liess sie in der Wüste Schur drei Tage ohne Wasser; in Mara war das Wasser bitter und ungeniessbar; in der Wüste Sin hatten sie kein Brot mehr, da ihre Vorräte in ihren Gefässen zu Ende gingen; als Er ihnen das Man – Manna – spendete, gab Er ihnen nur eine Tagesration, nämlich ein Omer pro Kopf. Die Gerechten fanden das Man nahe bei ihrem Haus, und wer nicht so G-ttesfürchtig war, musste ausserhalb des Lagers das Man einsammeln. Für die Gerechten war das Man zum sofortigen Essen bereit, die anderen mussten es erst im Mörser zerkleinern, es mahlen, backen oder kochen. Hatte sich jemand durch eine gute Tat verdient gemacht, wurde er zu den Frommen gezählt und kam in den Genuss des Mans – fertiges Essen vor dem Zelt - wie sie. Ebenso konnte eine Person, die zu den Gerechten zählte, durch schlechte Handlungen zu denjenigen gezählt werden, die das Man - plötzlich und vor aller Augen - mühsam sammeln und zubereiten mussten.
Wie lassen sich diese ständigen Spannungen während der Wanderung in der Wüste erklären? Einerseits kam Jisrael in den Genuss eines Privilegiums, wie nie ein Volk zuvor: Befreiung aus ägyptischer Sklaverei und Führung zum Sinai – all dies begleitet von Wundern und übernatürlichen Offenbarungen. Andererseits wiederum forderte G"tt während der Wüstenwanderung von diesem Volk fast unerträgliche Entbehrungen, weil Er seine Standhaftigkeit prüfen wollte. War es möglich, unter dem Druck des "Midat Hadin" – der strengen, g"ttlichen Führungsweise – niemals zu sündigen oder niemals sich aufzubäumen?
Lassen wir uns weitere Ereignisse, die zur Spannung beitrugen, vor Augen führen.
Als sie in Refidim lagerten, hatten sie kein Wasser zu trinken. Sie verloren ihr G"ttvertrauen, und so stritt das Volk mit Mosche.
Dann kam Amalek und griff das geschwächte Volk aus dem Hinterhalt an.
Mosche führte sie an den Berg Sinai, und G"tt sprach zu ihnen von Angesicht zu Angesicht – und gleich darauf riss ihre Geduld, als sie auf Mosches Rückkehr warteten: "Lo jadanu me haja lo" – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist [Schemot 32, 1]. So kam es zur schrecklichen Sünde des Goldenen Kalbes, und viele Tausende fielen dem G"ttlichen Strafgericht zum Opfer.
Dann begannen sie mit dem Bau des Mischkan – des Stiftszeltes, in welchem die Schechina – die g"ttliche Anwesenheit – weilen sollte, zum Zeichen der Versöhnung. Doch vom Tag der Vollendung an, dem 25. Kislew bis zum Aufbau am ersten Nissan, blieb das Stiftzelt noch zusammengefaltet. Sie wussten nicht warum und sagten: Nachdem G"tt uns auserwählt hat, verschmäht Er uns nun?
Kaum war das Mischkan erstellt, und G"ttes Schechina liess sich darin nieder, um unter ihnen zu weilen, da liess G"tt wieder Midat Hadin walten, als Nadaw und Awihu, zwei Söhne des Priesters Aharon, bei der Einweihung des Mischkans lebendig verbrannten, als sie "Ejsch Sara" – fremdes Feuer – darbrachten.
Als das Volk nach Fleisch gelüstete und sie dies in ungehöriger Art forderten, entbrannte G"ttes Zorn gegen es.
Nun kamen sie nach Chazerot und erreichten bald das Gebiet ihres Erbteils, um es in Besitz zu nehmen, da redete Mirjam Böses über ihren jüngeren Bruder Mosche. Zwar hatte sie nichts Böses beabsichtigt, sie handelte nur aus Liebe zu ihrem Bruder und dessen Frau. Doch das g"ttliche Urteil schonte sogar Mirjam, die Fromme, nicht, und so wurde sie von schwerem Aussatz befallen!
Zu all diesen Spannungen, die sich zwischen G"tt und Seinem Volk ergaben, kommt noch ein psychologisches Moment hinzu: Keinem Volk war es bisher vergönnt, von einem solch treuen Hirten geführt zu werden, wie es unser Lehrer Mosche war. Ist es etwa leicht, unter dieser aussergewöhnlichen Persönlichkeit zu leben und mit ihr in ständigem Kontakt zu sein? Bei seinem Anblick musste man sich demütig beugen und Scham über die eigene Unzulänglichkeit verspüren. Wer kann gegenüber einer solch engelgleichen Persönlichkeit bestehen?
Anfang und Ende eines Weges
Selbstverständlich wollte auch der Heilige, gelobt sei Er, nicht, dass Jisrael, Sein Volk, den Engeln gleiche. Vielmehr wollte Er, dass sie Licht und Vorbild für andere Völker seien. Andere Völker sollten von ihnen lernen, und nicht etwa sagen, die Israeliten seien Engel, und keiner könne ihnen gleichkommen.
Als G"tt Sein Volk auserwählte, suchte Er ihm auch ein Land aus, in dem es ein Leben wie jedes andere Volk auf seinem Boden lebe, dass es pflügen und säen werde, wie alle anderen und sich des Segens G"ttes erfreuen möge, den G"tt ihm im Lande gibt. Sie sollten die g-ttlichen Gebote erfüllen wie alle anderen Menschen ihre Gesetze, zu ihrem Guten und zum Guten der ganzen Welt. Sie sollten Vorbild für die ganze Welt sein, und ihr vorleben, wie gut es doch sei, wenn man sich nach den Vorschriften der Tora verhält, die Mizwot erfüllt, so dass alle Menschen ihre Taten nachahmen mögen.
Es war nur zu Beginn ihres Weges, dass G"tt sie in Seinen Gan Eden – in ein Paradies – führte, dass er ihnen die Mühen des alltäglichen Lebens ersparte, damit sie sich voll und ganz der Tora hingeben konnten, damit sie G"ttes Wege lernen und verstehen und ihren Glauben und ihr Vertrauen in G"tt stärken mögen und niemals davon abweichen. Nun stehen sie kurz davor, ihr Land einzunehmen und darin in normaler, natürlicher Weise zu leben und sich nicht mehr auf Wunder zu verlassen.
Lasst uns Leute vor uns hinschicken
Als das Volk zu Mosche kam und ihm sagte: Lasst uns Leute schicken, die das Land auskundschaften sollen, sagten sie nicht die ganze Wahrheit, denn sie schämten sich vor ihm. Mosche war sicher, dass sie nur wissen wollten, wo sich die verletzbaren Stellen befinden, und welches der sicherste Weg sei, den sie zum Eintritt ins Land beschreiten sollten. Dies gefiel Mosche, denn auch wenn G"tt ihnen beim Eroberungskampf helfen werde, sollten sie sich doch selbst in natürlicher Weise helfen. Auch Jehoschua verhielt sich so, und selbst Mosche sandte Kundschafter nach Ja'aser, "Wajischlach Mosche leragel et Ja'aser" – Mosche entsandte, um Ja'aser auszukundschaften [Bamidbar 21, 32] am Ende der vierzig Jahre Wüstenwanderung.
Das Volk aber hatten anderes im Sinn. Sie wollten wissen, wie das Land beschaffen sei, ob es ein Land wie andere Länder sei und ob man dort wie anderswo auf natürliche Weise leben könne. Oder war dieses Land wieder wie eine Art Gan Eden, in dem man wie in einem Königspalast lebt, und dort wieder "Midat Hadin" – die strenge, g"ttliche Führungsweise - herrsche? Sie fürchteten, dass sie auch dort wieder kein normales, natürliches Leben führen könnten, dass dieses Land wieder übernatürliche Dinge von ihnen fordern würde.
Sie schämten sich, diese Dinge Mosche klar darzulegen, denn dies würde bedeuten, dass sie wissen wollten, ob es möglich sei, in diesem Land gut zu leben, auch ohne Mosche und die g"ttliche Wundertaten…
Entsende dir Leute …
Der Heilige, gelobt sei Er, der die Gedanken des Menschen kennt, wusste genau, was sie im Sinn hatten. Darum sagte Er zu Mosche: Schicke nicht nur einige Soldaten, so wie du es beabsichtigst hattest, denn diesen werden sie keinen Glauben schenken, diese genügen ihnen nicht, Sende starke Menschen, Stammeshäupter, damit sie ihnen vertrauen. Ich jedoch befehle nicht, die Güte des Landes prüfen zu lassen, denn ich habe ihnen ja schon versichert, dass das Land gut sei für sie, und ihren Ansprüchen angemessen.
"Waomar A'ale etchen meOni Mizrajim" – darum sprach Ich: Ich will euch aus dem Elend Mizrajims hinwegführen in das Land des Kena'ani, Chiti… in ein Land, worin Milch und Honig fliesst [Schemot 3:17]. Für diese Völker ist es ein gutes Land, um wieviel mehr noch wird es ein gutes Land für Meine Kinder sein, die Ich Mir auserwählt habe. Wenn sie nun Zweifel hegen, so müssen sie ihre Zweifel selbst beseitigen. Würde man sie nun dorthin bringen, würden sie das Gute dieses Landes nicht schätzen. Dieses Land braucht starke Menschen, Menschen, die Vertrauen haben und Glauben. Sie müssen G"ttvertrauen besitzen und auch an sich selbst glauben, dass sie G"ttes Güte und Liebe selbst verdienen.
G"tt sagte: Wenn du versprochen hast, Leute zu schicken, so wie sie es wünschen – schicke sie. Aber dieses seien kräftige Männer, starke Persönlichkeiten, ein Mann aus jedem Stamm, und zwar Fürsten! Diese Botschafter werden eine Prüfung für das ganze Volk sein. Wenn diese dann verzagen, sind sie nicht würdig, das Land in Besitz zu nehmen. Wenn sie aber das ganze Volk zum Verzagen bringen, dann ist dies ein Zeichen, dass dieses ganze Volk, diese ganze Generation, dieses Landes nicht würdig ist.
Wer in vollkommenem Vertrauen wandelt, geht sicher. Wer aber kein Vertrauen hat in Den, Der über ihm steht, muss selbst so stark sein, dass er alleine mit seinen Feinden fertig wird. Hat er aber nicht die Kraft dazu, so soll er keine Kampfhandlungen wagen.
Furcht im Herzen
Als die Kundschafter zurückkamen und Mosche und der ganzen Gemeinde ihren Bericht gaben, schien alles der Wahrheit zu entsprechen. Es war ja bekannt, in welcher Gegend Amalek wohnte, und was Amalek für das Volk bedeutete. Bekannt war auch, dass die Emoriter stark sind. Auch die Anwesenheit von Riesengeschlechtern war für das Volk nichts Neues. Selbst Mosche sagte: "Mi Jitjazew lifnej Benej Anak" – wer kann vor den Söhnen Anaks (der Riesen) standhalten [Dewarim 9, 2)]. Jedoch mit dem einschränkenden "Efes ki" – jedoch [Bamidbar 13, 28)], mit dem die Kundschafter die negativen Faktoren einleiteten, nahmen sie dem Volk jegliche Hoffnung. Sie hätten sagen können: Wohl sind sie stark, aber wir sind stärker als sie, wohl wohnt Amalek im Süden des Landes, aber wir werden es besiegen, so wie wir es schon einmal taten; zwar sahen wir die Kinder der Riesen, jedoch werden sie vor uns fallen und wir werden sie vernichten. Genau wie die jetzigen Völker die starken Völker, die vor ihnen dort waren, besiegten und ihnen das Land wegnahmen, weil es der Wille des Heiligen, gelobt sei Er, so war, so werden auch wir ihnen das Land wegnehmen. So wie auch Moaw, Amon und Edom die Riesen, die vor ihnen dort waren besiegten und ihnen das Land wegnahmen, weil es der Allmächtige so beschlossen hatte. In dieser Weise hätten die Benej Jisrael den Bericht positiv aufgefasst. Mit dem Wörtchen "Efes" drückten sie aber nur ihre Angst aus.
Wohl glaubten sie daran, dass G"tt ihnen Wundertaten tun kann, und dass Er imstande sei, Zahlreiche und Starke in die Hand von Wenigen und Schwachen zu geben. Es fehlte ihnen jedoch an Selbstvertrauen. Sie wussten nicht, ob sie würdig seien, solche Wunder erfahren zu dürfen, und dass diese durch sie selbst erwirkt werden könnten. Sie glaubten, dass wenn auch nur ein Israelit sich etwas zuschulden kommen liesse, würde G"tt Sein Antlitz vor ihnen verbergen und ihre Frauen und Kinder würden dem Schwert anheimfallen. ‘Wieder wären wir, genau wie hier in der Wüste, nur von Wundern abhängig und könnten kein normales Leben führen.’ Da breitete sich ein Murren innerhalb des Volkes aus.
Bis dahin hatten die Meraglim (Kundschafter) nur durch Andeutung ihrem Verzagen Ausdruck gegeben. Sie hatten gesagt "Efes ki As Ha'Am…" – jedoch ist das Volk mächtig... Da erhob Kalew seine Stimme, eine Stimme, die voller Vertrauen den Ausdruck gab, wie stark Jisrael, das von allen Völkern auserwählt war, in Wahrheit ist. Trotz all seiner Schwächen wäre es imstande, mit eigener Kraft grössere und stärkere Völker zu besiegen. Wenn ihnen Wunder geschehen, so sei dies für sie normal und naturgemäss, weil G"tt an ihnen Gefallen findet, auch wenn sie sündigen. Niemals wird ein Vater seine Söhne verschmähen, sogar wenn er Unmut in seinem Herzen trägt. "Alo na'ale" – wohl können wir hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir sind ihm wirklich mächtig genug [Bamidbar 13, 30], sagte Kalew. Das Land ist uns wohl angemessen, und wir verfügen über genügend Kräfte, um es einzunehmen und uns für immer dort niederzulassen.
Sobald Kalew - mit seinem heldenhaften Herz - seine Meinung kundtat, offenbarten die Meraglim nun ihre grenzlose Furcht. Sie sagten: "Lo nuchal la'alot ki chasak hu mimenu" – wir können nicht gegen dieses Volk ziehen, denn es ist stärker als wir (oder als Er – auf G"tt bezogen) [ibid. 13:31]. Im Hebräischen bedeutet "mimenu" "als wir" oder auch "als Er". Raschi erklärt zur Stelle, sie meinten damit G"tt. Auch als Er uns aus Ägypten "mit starker Hand" herausführte, sind wir nur um Haaresbreite dem Untergang entgangen, sowohl in Ägypten als auch am Roten Meer, weil die Midat Hadin gegen uns klagte. Nicht immer können wir uns auf die "starke Hand" verlassen, meinten sie, es könne uns diesmal die Midat Hadin - die strenge Weltführung G-ttes – treffen, da wir so viel Schuld und Sünde auf uns geladen haben. Können wir uns denn immer auf Wunder verlassen?
Ein Königspalast
So hatten die Kundschafter gesprochen: Das Land, in das wir kommen, um es einzunehmen, ist ein Lager der Schechina, genau wie die Wüste hier. Es ist nicht ein besseres Land als alle anderen Länder, es gleicht ihnen in nichts. Es ist ein Königspalast; wir können nicht dort eintreten, da wir aus dem Sklavenhaus Ägyptens kommen, können wir noch keine Palastbewohner sein.
Hat man je ein solch fruchtbares Land gesehen, dessen Segen so reichlich hervorquillt, dessen Traubenertrag eines einzigen Weinstockes so ergiebig ist wie die Ernte eines ganzen Weinbergs in andere Länder? Gibt es oder gab es je ein Land, dessen Bewohner entweder riesengross zum Himmel wachsen und den Nefilim – vorsintflutliche Riesen – gleichen, oder wie Fliegen dahinsterben?
Das ganze Land ist nichts anderes als ein Gan Eden (Paradies), eine Himmelsgabe für alle, die deren würdig sind oder ein Gehinom (Hölle) für die Unwürdigen!
Diesen Bericht gaben die Kundschafter ab, die als hochangesehene Fürsten beim Volk bekannt waren. Wenn solch ehrbare Männer so sprechen, wie sollten dann die einfachen Leute reagieren? "Watissa kol Ha'Ejda" – da erhob die ganze Gemeinde ihre Stimme und liess ihr freien Lauf, und es weinte das Volk die ganze Nacht hindurch [Bamidbar 14:1]. "Lu matnu beErez Mizrajim, o Bamidbar hase lu matnu" – wären wir doch in Ägypten gestorben, oder wären wir doch in dieser Wüste gestorben [ibid.14:2]. Mit diesem Ausruf hatten sie ihr eigenes Urteil gefällt. Aus der Knechtschaft Pharaos waren sie entflohen, aber das Gelobte Land hatten sie noch nicht erreicht. "Halo tow lanu schuw Mizrajma" – es ist wahrlich besser für uns, wenn wir nach Ägypten zurückkehren! [ibid 14:3] Sie meinen, es sei besser für sie, zur Sklaverei und zur Erniedrigung zurückzukehren, als die grosse Verantwortung der erhabenen Freiheit auf sich zu nehmen. Ein solches Volk, das so spricht, kann nicht erhaben über andere Völker sein. Ein Volk, das sich selbst so niedrig einschätzt und glaubt, dass G"tt es seiner Sünden wegen hasst und es darum vernichten will, legt nur Zeugnis gegen sich selbst ab. Es gibt zu, noch so tief in Sünde verstrickt zu sein, dass es keine Möglichkeit sieht, sich zu sittlicher Höhe emporzuheben. Sogar Mosche Rabbejnu, der das Volk liebt und es auf Armen trägt, es beschützt wie eine Pflegemutter den Säugling, ist nun nicht bereit, sich für es einzusetzen und Erbarmen zu erbitten, damit das schreckliche Verhängnis nicht über es komme, "Im jir'e Isch Ba’Anaschim ha'ejle" – kein Mann unter diesen Männern dieses bösen Geschlechts soll das gute Land sehen, das Ich euren Vätern zu geben geschworen [Dewarim 1, 35). Mosche bittet G"tt nur darum, nicht das ganze Volk durch die Epidemie dahinzuraffen, um ein Chillul Haschem – eine Entweihung des G"ttlichen Namens - zu vermeiden. Doch es ist nicht würdig, in dieses Land zu kommen. "Wehitchasaktem ulekachtem miPeri Ha'Arez" – seid stark und nehmt von den Früchten des Landes [Bamidbar 13:20], hatte Mosche den Kundschaftern gesagt, bevor sie sich auf den Weg begaben. Wer von den Früchten des Landes kosten und sich an ihnen sättigen will, muss zuvor Kraft und Charakterstärke besitzen. Nun, da sie verängstigt und kraftlos zurückgekommen waren, haben sie es nicht verdient, Bewohner dieses Landes zu werden. "In dieser Wüste werden sie sterben und ihr Ende finden." [ibid. 14:35]
Wehklage, die noch Generationen andauert
"Atem bechitem Bechija schel Chinam" – ihr habt grundlos geweint, so setze Ich euch diese Zeit als eine Zeit des Weinens für Generationen fest [Ta'anit 29a]. Ist denn G"tt zornig und rächend? Auch könnte man die Frage erheben, warum die Nachkommen die Sünden der Väter büssen müssen. War es denn nicht genug, dass die junge Generation der Wüste 40 Jahre lang auf den Tod ihrer Väter warten musste, bis sie in das Land kommen durfte?
Wenn dann später die Söhne wegen ihrer eigenen Schuld aus dem Land vertrieben wurden, welche Beziehung besteht zwischen der Sünde der Väter und der Bestrafung der Kinder? Warum ist gerade das Datum, an dem die Väter sich versündigt hatten, der neunte Aw, als Tag der Zerstörung (für die Kinder) festgesetzt worden?
Man kann dies folgendermassen erklären:
Wegen des grundlosen Weinens hatte G"tt das Sterben in der Wüste nur auf die Väter verhängt. Die Söhne, die nicht an der Sünde beteiligt waren, kamen in das Land und erbten es. Man könnte also sagen, die Söhne seien vollkommen von der Schuld der Undankbarkeit der Väter befreit. Doch die Söhne sind Träger der Charaktereigenschaften ihrer Väter, und wenn sie auch selbst wegen der Sünde ihrer Väter nicht sterben mussten, ist G"tt darauf bedacht, dass die Söhne von der Wurzel der Sünde der Undankbarkeit, das in den Söhnen durch Vererbung vorhanden ist, rein gewaschen wird. Die Väter hatten das schöne Land verschmäht, grundlos geweint und gesagt: "Nitna Rosch wenaschuwa Mizrajma" – wir wollen uns einen Anführer einsetzen und nach Ägypten zurückkehren [Bamidbar 14:4]. Diese vererbte Schuld der Undankbarkeit kann nur durch Wehklagen zukünftiger Generationen wiedergutgemacht werden. In allen Ländern der Zerstreuung sollen sie um das zerstörte Land trauern, auch wenn sie dort Ruhe gefunden haben und in Wohlstand leben. Ihr Land aber sollen sie nicht vergessen und sollen es aufrichtig beweinen. Sie sollen Tränen über die Verwüstung des Landes vergiessen und sich danach sehnen, wieder zurückkehren und sich auf dem verödeten Boden niederlassen zu können und zu sagen: "Wann gäb's gleich köstlich Behagen Barfuss und bloss durch die Trümmerwüste zu wandern, die einst Dein Tempel war..." (Aus den Zionsliedern von Rabbi Jehuda Halevi, Kinna an Tischa Be’Aw "Zijon Halo Tischali...")
So ergibt sich also, dass G"tt dem Volk Jisrael Gerechtigkeit erweist, denn als Er in den späteren Jahren Zerstörung und Verbannung verhängte, wählte er das genaue Datum der Sünde der Väter, damit die Söhne durch ihr Weinen im Lauf der Generationen wiedergutmachen können, was die Väter verschuldet hatten. Alle Völker der Welt werden sagen: Dies sind die wahren Söhne Zijons, und alle Völker, die es eroberten und zerstörten, bleiben Fremde. Sie werden das Land wieder verlassen, und die echten Söhne werden in ihr Gebiet zurückkehren.
Man erzählt von Kaiser Napoleon von Frankreich, er sei am Tischa Be’Aw in Paris an den Toren einer Synagoge vorbeigegangen. Dort sah er die Juden auf dem Boden sitzen, die Zerstörung ihres Heiligtums beweinend und klagend. Es war, als ob das Unglück sie erst am Vortrag ereilt hätte. Er liess sich über dessen Motiv informieren. In grossem Erstaunen sagte er: Ich schwöre, dass diesem Volk eine verheissungsvolle Zukunft in ihrem Land beschert sein wird. Wo finden wir ein anderes Volk in der Welt, das seine Trauer und seine Hoffnung nach Tausenden Jahren bewahrt, und niemals aufgibt?
Nach dem Verhängnis
Von dem Verhängnis der Todesstrafe in der Wüste waren damals nur diejenigen betroffen, die im vergangenen Jahr (bereits im ersten Jahr) für das Heer gemustert worden waren. Männer zwischen zwanzig und sechzig Jahren, die vor dem neunten Aw das zwanzigste Jahr vollendet hatten.
Ausgenommen waren: 1. Der Stamm Lewi, weil er keine Kundschafter gesendet hatte, er sollte ja keinen Erbanteil im Land erhalten. 2. Die Frauen aller Stämme, denn sie liebten das Land und hatten nicht geweint. 3. Alle Jugendlichen unter zwanzig Jahren. 4. Alle Älteren, die am neunten Aw im ersten Jahr mehr als sechzig Jahre alt waren. 5. Jehoschua und Kalew, obwohl sie rund vierzig Jahre alt waren, denn sie waren g"ttesfürchtig geblieben.
Viele unserer grossen Erklärer sagen, dass während der vierzig Jahre Wüstenwanderung der Benej Jisrael keiner eines natürlichen Todes gestorben ist, weil sie von keiner Krankheit befallen wurden und es auch keine Altersschwäche gab. Jeder Tod in der Wüste war nur Folge eines Vergehens. Es ergibt sich daraus, dass es in der Generation derer, die ins Land kamen, viele alte Männer und sehr viele Frauen gab. Alle Frauen, deren Männer gestorben waren - Witwen der 600'000 Männer, die durch das Verhängnis der Todesstrafe umgekommen waren, betraten das Land. Auch die zum Tode Verurteilten starben in der Wüste nicht, bevor sie das sechzigste Lebensjahr erreicht hatten. Da G"tt vorausgesehen hatte, dass die Benej Jisrael sich durch das Aussenden der Kundschafter versündigen würden, hatte Er schon in Ägypten dafür gesorgt, dass die jährliche Geburtenzahl fortwährend gleich bleibe, in etwa 15'000 männliche Kinder.
Als das Verhängnis sie ereilte, starben nicht alle 600'000 zur gleichen Zeit. Jedes Jahr war die Zahl der Toten etwas über 15'000. Die Gesamtzahl der Heerespflichtigen betrug sechshundertdreitausendfünfhundertfünzig (603'550). Wenn man diese Zählung durch vierzig (Jahre) teilt, so starben etwa 15'000 jedes Jahr, bis von dieser Generation keiner mehr übrigblieb.
Tisch’a Be’Aw in der Wüste
Vom ersten Tisch’a Be’Aw an, nach dem Verhängnis, wurde dieser Tag immer als Trauertag festgesetzt, bis zum letzten Jahr. Es starben nämlich alle am Tisch’a Be’aw, all diese, die in diesem Jahr das Alter von sechzig Jahren erreicht hatten.
An jedem Vorabend des Tisch’a Be’Aw erging folgender Aufruf: Es grabe ein jeder sein Grab und übernachte dort. Am nächsten Morgen wurde ausgerufen: Es trennen sich die Lebendigen von den Toten. Die Überlebenden stiegen aus ihren Gräbern. Nach der Zählung stellte man fest, dass es jedes Mal rund 15'000 waren, die gestorben waren. So verfuhr man während den vierzig Jahren (siehe Raschi Traktat Ta’anit 30b). Die Tora sagt [Bamidbar 14:34]: ‘…ein Tag für ein Jahr, ein Tag für ein Jahr’, d.h. vierzig Jahre lang, in jedem Jahr starben die 60jährigen an einem Tag…
Alle gingen in der Nacht des neunten Aws in die Gräber, nur jene, die noch nicht sechzig Jahre alt waren, blieben am Leben. Die Gräber der Sechzigjährigen wurden mit Erde bedeckt. Die übrigen Gräber wurden mit Erde zugedeckt in der Hoffnung, G"tt möge Mitleid mit den Überlebenden haben und die Todesstrafe für das kommende Jahr annullieren, vielleicht wird G"tt sich erbarmen.
Obwohl unsere Weisen sagen: "So führten sie es während vierzig Jahren aus", ist dies nichts anderes als der Wortlaut der Tora: "Bemispar Hajamim" – nach der Zahl der Tage, die ihr das Land erforscht habt, vierzig Tage, so sollt ihr, je einen Tag für ein Jahr, je einen Tag für ein Jahr (oder auch: für jeden Tag ein Jahr, für jeden Tag ein Jahr), eure Sünde tragen, vierzig Jahre [Bamidbar 14, 34]. Jedoch werden auch die zwei ersten Jahre der Wüstenwanderung vor der Bestrafung zu diesen vierzig Jahren gezählt; praktisch heisst dies, dass Jisrael in der Wüste nur 37-mal Tischa Be’Aw in Trauer verbracht hat. Wieso?
Der neunte Aw des ersten Jahres verlief noch vor der Sünde der Kundschafter. Am neunten Aw des zweiten Jahres fand das Ereignis statt. Zwar wurde noch am gleichen Tag die Strafe verhängt, kam aber erst im darauffolgenden Jahr zur Ausführung. Auch am Tischa Be’Aw des letzten Jahres starb niemand, denn nach der Überlieferung hat der Heilige, gelobt sei Er, diese letzte Bestrafung erlassen, wie später erklärt wird.
Die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels
Die Zerstörung des Ersten Tempels geschah in den Tagen des Königs Zidkijahu im Jahr 3338. Die zweite Zerstörung zur Zeit von Rabbi Jochanan ben Sakkai erfolgte im Jahr 3828. Beide Zerstörungen fanden am Tischa Be’Aw statt.
In Melachim II [25, 8-9] heisst es: "UwaChodesch HaChamischi – im fünften Monat, am siebten des Monats – es war das neunzehnte Jahr des Königs Newuchadnezar, des Königs von Bawel – kam Newusaradan, der Oberste der Scharfrichter, der vor dem König von Babel Dienst hielt, nach Jeruschalajim." Unsere Weisen lehren: Wieso heisst es in Jermijahu [52:12] "am zehnten des Monats", dann kann es doch nicht am siebten stattgefunden haben? Wie ist dies zu erklären? Am siebten des Monats drangen Fremde in den Tempel ein, assen und verwüsteten dort am siebten, achten und neunten. Am neunten vor Einbruch der Dunkelheit zündeten sie das Feuer an, und der Tempel brannte während des ganzen Tages des zehnten. So heisst es: "Oi lanu ki pana Hajom" – weh uns, denn der Tag geht dem Ende zu, die Abendschatten strecken sich schon [Jirmijahu 6, 4]. Hierzu erklärt Rabbi Jochanan: Hätte ich damals gelebt, hätte ich den Trauertag auf den zehnten Aw festgelegt, denn an ihm verbrannte der grösste Teil des Tempels (Ta'anit 29a).
Es wird gelernt: An einem günstigen Tag kommt man in den Genuss eines Verdienstes, hingegen bringt ein ungünstiges Datum Unheilvolles. So sagen unsere Weisen: Das erste Heiligtum wurde am neunten Aw zerstört; es war ein Schabbatausgang (Sonntag) und auch das Ende eines Schmitta-Jahres. Die Priesterwache Jehojariw hatte Dienst, die Lewiten standen auf dem Duchan – Estrade – und sangen. Welches Lied sangen sie: "Wajaschew alejhem et Onam, uwRa’atam jazmitem" – Er zahlte ihnen ihr Unrecht heim und in ihrer Bosheit vernichtet Er sie [Tehillim 94, 23]. Sie sangen dies als Trauergesang, denn es war nicht das Schir Schel Jom – das Lied, das beim täglichen Opfer an jedem Sonntag gesungen wurde. Noch hatten sie "…und in ihrer Bosheit vernichtet Er sie" nicht ausgesprochen, da drangen die Fremden ein und nahmen sie in ihre Gewalt. So geschah es auch bei der Zerstörung des Zweiten Tempels [Ta'anit 29a].
Unsere Weisen lehrten: Als der erste Tempel zerstört wurde, versammelten sich Gruppen junger Kohanim und hatten Schlüssel des Heiligtums in ihren Händen. Sie stiegen auf das Dach des Heiligtums und riefen: Herr der Welt! Da wir es nicht verdienen, würdige Verwalter zu sein, übergeben wir Dir hiermit die Schlüssel. Sie warfen diese nach oben, da trat - in Erscheinung - wie eine Hand hervor und nahm die Schlüssel in Empfang. Dann sprangen sie in das Feuer [Ta'anit 29a].
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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