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Die jüdischen Monate

Perspektiven zum Monat Adar

 Aus: Die Jüdische Zeitung Nr. 8, 28. Schwat 5777 / 24. Februar 2017

Von Z. Heller. Korrekturen: Gill Barnea, Ergänzungen: S. Weinmann

Das Masal (Sternzeichen) des Monats Adar

Bekanntermassen beginnt das jüdische Jahr am 1. Tischrej mit Rosch Haschana. Hillel Haschejni (der zweite Hillel) hat im 4. Jahrhundert in Babylonien unseren Luach (Kalender) festgelegt, der bis heute seine Gültigkeit hat. Dieser Kalender beginnt jeweils am 1. Tischrej. Die Namen der Monate, wie wir sie haben, entstanden erst nach der Zerstörung des Ersten Tempels. Die Tora verwendet jedoch eine andere Methode: Die Monate werden nicht mit Namen, sondern mit aufsteigenden Zahlen bezeichnet: „erster Monat“, „zweiter Monat“, usw. Der „erste Monat“ ist Nissan, gekennzeichnet durch Pessach, dem Jahrestag der Erlösung aus Mizrajim (Ägypten). In unserem Kalender ist Nissan aber der siebte Monat.

Juden scheinen eine Neigung zur Komplexität zu haben. Wenn wir uns die beiden Arten der Monatszählung jedoch genauer anschauen, entdecken wir etwas Faszinierendes: Tischrej ist der Monat, der die Schöpfung der Menschheit kennzeichnet, Adam und Chawa wurden am 1. Tischrej erschaffen. Für uns Sterbliche ist dies der zentrale Punkt der Menschheitsgeschichte. Daher ist für uns Tischrej der erste Monat des neuen Jahres.

Haschem hingegen sieht die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Wie in Seiner Tora beschrieben, ist die Entstehung des jüdischen Volkes der Beginn einer bedeutungsvollen Geschichte. Daher ist in der Tora Nissan der erste Monat. Dies bringt uns zu Adar, dem Monat vor Nissan, in dem wir Purim feiern. Aus der Tora-Perspektive ist Adar der letzte Monat des jüdischen Kalenders. Adar wird oft als der „Monat der Dunkelheit“ beschrieben, denn in Hamans Zeit waren wir der absoluten Vernichtung näher als je zuvor. Das Licht von Nissan, das Licht der Erlösung, hätte durch Hamans Pläne ausgelöscht werden können. Durch das Purim-Nes (Wunder) wurde die Dunkelheit in Licht umgewandelt.

Fische und Fruchtbarkeit

Adar ist der jüdische Monat des guten Masals. Genau genommen ist Purim der fröhlichste Tag des ganzen Jahres. „Mischenichnas Adar marbim beSimcha“ (wenn Adar kommt, vermehrt sich die Freude), sagen Chasal (unsere Weisen). Wie hat Adar seinen wohlverdienten Ruf für Freude erhalten?

Das Sternzeichen von Adar ist der Fisch. Fische vermehren sich sehr schnell und sind deswegen ein Symbol für Beracha (Segen) und Fruchtbarkeit. Der Schoresch (die Wurzel) des Wortes „Beracha“ besteht aus den Buchstaben Bet (Gimatrija/Zahlenwert 2), Resch (200) und Chaf (20). Jeder dieser Buchstaben ist der erste mehrfache Wert seiner Einheit. Dies zeigt uns, dass die jüdischen Konzepte von „Beracha“ und Fruchtbarkeit miteinander verbunden sind und durch den Fisch von Adar repräsentiert werden. Denn, wenn wir etwas Gutes haben, weshalb sollen wir seine Vermehrung nicht zulassen?

Der Gegensatz von Segen ist die Einschränkung. Adar ist der Monat, in dem Haman drohte, unsere Existenz nicht nur einzuschränken, sondern uns vollkommen zu vernichten. Doch das Masal (die g-ttliche Vorsehung) hatte andere Pläne.

Mosches Geburt und Tod

Zur Zeit der Zerstörung des ersten Bet Hamikdasch (Tempel) wurde das jüdische Volk nach Babylonien verbannt, das später durch die Perser regiert wurde. Das Persische Reich dehnte sich schlussendlich über den grössten Teil der damals gekannten Welt aus, wodurch die ganze jüdische Bevölkerung unter persische Herrschaft geriet – unabhängig davon, wo sie wohnten. Haman, der niederträchtige Premierminister Persiens, zog Lose und bestimmte so das perfekte Datum für seinen Plan, das ganze Königreich judenrein zu machen.

Hamans ‚Glückstag’ fiel auf den 13. Adar, was ihn sehr erfreute, da er wusste, dass Mosche am 7. Adar gestorben war. Mosche war der Inbegriff eines teuren Juden; Chasal sagen, Mosche hätte dem ganzen jüdischen Volk gleichgestanden – der Kopf, der den ‚Körper’ der Nation kontrollierte und sie mit Sehkraft, Artikulation und Anweisungen versorgte. Haman sah die Tatsache, dass das Los auf Adar gefallen war, als ein gutes Omen für das Gelingen seiner Pläne. Was Haman jedoch nicht wusste, war, dass der 7. Adar nicht nur der Todes-, sondern auch der Geburtstag Mosches war. Der Tag, den Haman als den Tag der jüdischen Vernichtung sah, wurde zum Tag der nationalen Wiedergeburt.

Bescheidenheit und der Fisch

Der Fisch trägt als Sternzeichen Adars noch mehr Bedeutung: Fische verbringen ihr ganzes Leben unter Wasser, ungesehen vom menschlichen Auge. Chasal (unsere Weisen) lehren uns, dass Segen nicht auf etwas kommt, das unter dauerhafter

Beobachtung steht, sondern nur auf etwas, das vor dem Auge verborgen ist. Dies wegen der direkten Verbindung zwischen Bescheidenheit und Segen.

In der westlichen Auffassung, nach welcher Erfolg und Ruhm identisch sind, scheint Bescheidenheit genau das Gegenteil von Segen zu sein.

Die Tora lehrt uns jedoch, dass wir nicht wachsen, indem wir uns auf die Anerkennung anderer verlassen. Im Gegenteil: Wir riskieren, ein Mensch zu werden, dessen ganzes Ich in der Maske besteht, mit der er glaubt, die anderen zufrieden stellen zu können.

Mosche wird in der Tora als der ‚bescheidenste Mensch’ beschrieben. Durch sein bescheidenes Leben wurde die Demut ein Teil der jüdischen Identität. Wir haben die Bescheidenheit immer über den Stolz gestellt. Daher ist der Fisch, das Sternzeichen Adars, das Symbol des jüdischen Volkes.

Die Feier der verborgenen Nissim (Wunder)

Man mag erwarten, dass Megillat Esther (die Esther-Rolle) alle Wunder, die zu Hamans Niederlage geführt haben, genau beschreibt – und so G-tt die gebührende Anerkennung für Seine Nissim erteilt. Doch wir sehen genau das Gegenteil: Haschems Name wird in der ganzen Megilla kein einziges Mal erwähnt. Die Megilla ist ein grosses Paradoxon, in welchem der Held die ganze Zeit über im Hintergrund bleibt, jedoch die Hauptrolle des Dramas spielt.

Selbstverständlich wird nicht jeder, der die Megilla liest, Haschems subtile, aber gewissermassen doch allgegenwärtige Anwesenheit erkennen. Die Anlässe, die Er inszeniert, sind durch viele scheinbare Zufälle, politische Machenschaften und naturbedingte Ursachen verschleiert. Chasal nennen dies „verborgene Wunder“. Wir können die vielschichtige Realität, die sich vor uns ausbreitet, entweder als das anerkennen, was sie ist, oder die g-ttliche Realität leugnen – und alles ganz einfach dem Zufall zuschieben.

Dies führt uns zu einer sehr wichtigen Frage: Weshalb würde G-tt Seine Anwesenheit gleichzeitig kaschieren und offenbaren? Weshalb rettete Er das jüdische Volk nicht durch ein Blitz-und-Donner-Spektakel wie bei Matan Tora? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst eine noch viel grundlegendere stellen: Weshalb ist unsere Welt so komplex, so voll von scheinbaren Widersprüchen? Die Welt besteht aus einer komplizierten Ordnung und überwältigender Schönheit, doch gleichzeitig erleben wir so viel Chaos und entsetzlichen Terror. Weshalb?

Die Antwort liegt darin, dass uns die Wahl offensteht, tiefer hinzusehen und beide Aspekte der Realität anzuerkennen.

Es ist verlockend, in oberflächlichen Vereinfachungen Zuflucht zu suchen; die Mängel in der perfekten Welt, die wir uns wünschen, zu ignorieren. Eine solche Denkweise verlangt ihre eigene Art von Aufwand, wie zum Beispiel schlechte Nachrichten zu meiden, und uns in sicheren Zufluchtsorten wie unseren Autos und Häusern zu verstecken. Doch vor allem hat ein solches Handeln eine drastische Verleugnung der Tatsachen zur Folge.

Die entgegengesetzte Herangehensweise ist, sich ein masochistisches Vergnügen daraus zu machen, die Welt schwarz zu malen. Der Preis, den man dafür zahlt, ist hoch, doch die Menschen haben das Gefühl, etwas für ihre Bitterkeit und den Zynismus zurückzubekommen: Sie ‚sehen die Welt, wie sie ist’. Das Problem ist, das solche Menschen ihre Augen genauso vor der Wahrheit verschliessen wie die erstere Gruppe.

Die jüdische Sichtweise ist, zu verstehen, dass Chaos und Ordnung koexistieren, und beide jeweils ihren eigenen Zweck haben. Wir sollten uns den Herausforderungen, die in schwierigen Zeiten des Lebens aufkommen, stellen, und uns gleichzeitig von der Schönheit und Freude, die wir – wenn wir unsere Augen offenhalten – mindestens so klar sehen können, inspirieren lassen. Immer wieder öffnet uns Haschem die Tore weit genug, um uns eine Botschaft zu schicken, die uns aufrecht hält, wenn die Dinge hoffnungslos erscheinen. Die Botschaft lautet: „Ich bin jetzt hier – so wie Ich es die ganze Zeit hindurch war, und Ich werde immer für dich da sein. Nicht nur, wenn das Meer gespalten wird oder du von Meiner Präsenz überwältigt wirst, sondern immer, wenn du entscheidest, Mich sehen zu wollen.“

Dies ist die Kernaussage von Purim. Es geht darum, diese Art von Wahl zu treffen – die bedeutsamste und freudigste Entscheidung, die man jemals treffen kann.

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