Aus den besten Gründen mit der Beschneidung zögern (Rav Frand, Lech Lecha 5783)

Rav Frand zu Paraschat Lech Lecha 5783
Ergänzungen: S. Weinmann
Aus den besten Gründen mit der Beschneidung zögern
Awraham war 99 Jahre alt, als er das Gebot erhielt, sich zu beschneiden. Viele Kommentatoren stört es, dass Awraham bis zu diesem Lebensabschnitt wartete, um die Brit Milah (Beschneidung) auszuführen. Unsere Weisen lehren [Talmud Traktat Joma 28b], dass Awraham die ganze Torah (sogar die rabbinischen Gebote) erfüllte, obwohl sie von G-tt noch gar nicht auf Erden gegeben worden war und er dazu nicht verpflichtet gewesen wäre. Wenn er schon die ganze Torah erfüllte, wieso führte er dann die grundlegende Mizwa von Brit Milah nicht aus? Auf diese Frage gibt es eine ganze Reihe von Antworten.
Am Anfang der kommenden Parascha steht, dass G-tt Awraham erschien, und wie Raschi zur Stelle erklärt, war dies am dritten Tag seiner Beschneidung. Die Torah findet es nötig zu betonen, dass dies im Hain von Mamre geschah. Die Frage liegt auf der Hand: In unserer Parascha steht bereits, dass Awraham in Chewron (Hebron) im Hain von Mamre wohnte, wieso wiederholt dies die Tora nochmals und ganz speziell im Zusammenhang mit seiner Beschneidung?
Die Tora erzählt uns in unserer Parascha, dass Awraham drei Freunde hatte: „… und er Awraham wohnte im Hain von Mamre, des Emoriter, eines Bruders von Eschkol und Aner; diese waren Bundesgenossen von Awraham [Bereschit 14:13]. Unsere Weisen lehren [Midrasch Tanchuma Wajera 3], dass Awraham zu seinen Freunden gegangen war, um bei ihnen Rat zum G’ttlichen Befehl, sich beschneiden zu lassen, zu holen. Eschkol und Aner rieten ihm davon ab und nur Mamre ermunterte ihn die Beschneidung durchzuführen. Als Belohnung für seinen Rat, erschien G’tt Awraham in Mamres Hain.
Dies ist sehr merkwürdig. G’tt gab Awraham den Befehl, die Brit Milah durchzuführen. Was gab es da noch mit seinen Freunden zu diskutieren? Er besprach sich mit niemandem, als er den Befehl erhielt, seinen Sohn zu opfern. Wieso ist da das Gebot der Milah anders? Dies unterstreicht die Tatsache, dass Awraham aus irgendeinem Grund zögerte, die Beschneidung durchzuführen. Wieso?
Der Midrasch scheint uns sagen zu wollen, dass Awraham aus gutem Grund zögerte, den Befehl der Beschneidung auszuführen.
Awraham war in „Kiruv“ tätig. Er brachte die Menschen wieder unter die Fittiche G’ttes zurück. Er spürte – mit Recht, dass jemand, der auf Andere Einfluss ausüben will, mit ihnen einen gemeinsamen Nenner finden muss. Man muss einen Menschen, der einen geistig beeinflussen will, anschauen und denken können: „Ich habe mit diesem Menschen etwas gemeinsam. Er ist einer wie ich. Er ist nicht verrückt. Er ist nicht verschroben. Ich kann so wie er werden.“
Solange Awraham nicht beschnitten war, war er einer wie alle anderen. Aber von dem Moment an, an dem er dieses unauslöschliche Zeichen an seinem Körper anbringen wird, wird er für immer anders sein. Er würde nie mehr gleich sein wie sie. Man würde ihn als merkwürdig und andersartig betrachten. Seine ganze Lebensaufgabe würde nach der Ausführung dieses Gebotes in Mitleidenschaft gezogen werden.
Das ist die Bedeutung des Midrasch, dass Awraham zu seinen Freunden ging. Er beriet sich mit ihnen nicht, ob er G’ttes Befehl erfüllen solle oder nicht. Er wollte nur ihre Reaktion sehen, um abschätzen zu können, ob er die Milah öffentlich oder privat ausführen solle. Soll er diese Mizwa öffentlich und für alle erkennbar oder besser versteckt erfüllen? Mamre war es, der ihm riet, die Beschneidung - trotz allen Bedenken - öffentlich auszuführen.
Wieso verlangte G"tt von Awraham die Beschneidung gerade bei 99 Jahren auszuführen?
Wir verfügen nunmehr über die Erklärung, wieso Awraham zögerte, die Beschneidung durchzuführen. Awraham fürchtete, dass dies seine Fähigkeit Heiden zu bekehren, einschränken würde. Ziehen wir diese berechtigte Sorge Awrahams in unsere Überlegungen mit ein, fragen wir uns, was jetzt im Alter von 99 Jahren plötzlich anders geworden war? Wieso verlangte G’tt von Awraham die Beschneidung gerade zu diesem Zeitpunkt? Awraham hatte immer noch viele Lebensjahre vor sich. Wieso gefährdete G’tt Awrahams „Kiruv-Karriere“, indem er von Awraham die Milah gerade jetzt forderte? Wieso wartete er nicht bis Awraham 150 Jahre alt war – dann hätte er noch weitere 51 Jahre ungestört seiner Kiruv-Tätigkeit nachgehen können? Awraham starb erst mit 175. Er könnte sich doch mit 170 beschneiden lassen? Wieso gerade jetzt, bei 99 Jahren?
Rav Nissan Alpert meint, dass sich im Alter 99 folgendes änderte: Awraham sollte nun - mit 100 -den Sohn erhalten, aus dem die künftige jüdische Nation entstehen würde. Somit erhielt Awraham eine noch wichtigere Aufgabe als die Kiruv-Tätigkeit bei den Nationen der Welt. Seine Aufgabe war es nun, der bestmögliche Erzieher für die künftige jüdische Nation zu sein. Er musste nun der bestmögliche Lehrer werden, nicht für die ganze Welt, sondern für seinen Sohn.
Als Eltern müssen wir uns bemühen, perfekte Juden und perfekte Menschen überhaupt zu sein. Für unsere Kinder sind wir die wichtigsten Vorbilder. Deshalb können wir uns als Eltern keine Halbheiten leisten. Eltern sein ist mit neuer Verantwortung verbunden, auch wenn wir vorher ein leichtsinniges Leben geführt oder das Leben auf die leichte Schulter genommen haben. Dies gilt für alle Eltern. Und sicherlich gilt dies für Awraham, dem Vater von Jizchak und dem Vater der künftigen jüdischen Nation.
Awraham musste nun die höchste Stufe der Vollkommenheit erklimmen. Weil Milah ein Schritt auf dem Weg zu höchster Vollkommenheit darstellt, konnte sie jetzt nicht mehr weiter hinausgeschoben werden. Als Einleitung zum Gebot der Milah sagt der Allmächtige zu Awraham in unserem Wochenabschnitt [17:1]: „…wandle vor mir und werde vollkommen.“ Sogar wenn seine Kiruv-Tätigkeit ein wenig darunter litt – Awraham hatte jetzt Wichtigeres zu tun.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Midrasch Tanchuma: Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch. Wird nach dem Amora (Talmudgelehrten) Rabbi Tanchuma Bar Abbabenannt, da er am häufigsten in diesem Midrasch zitiert wird. Er war ein jüdischer Amora der 6. Generation, einer der bedeutendsten Aggadisten seiner Zeit.
- Raschi (1040-1105), Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak; Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
- Rav Nissan Alpert [Limudej Nissan] (gest. 1986): Schüler und Nachbar von Rav Mosche Feinstein; gestorben kurz nach Raw Mosche. Autor des Bibelkommentars Limudej Nissan. Rav der Agudah Long Island in Far Rockaway und Lehrer an der Jeschiwah "Rabbenu Jitzchak Elchanan"; New York City.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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