"Ja’akow liebte Josef mehr als alle seine Brüder" (Rav Frand Wajeschew 5782 - Beitrag 1)
Rav Frand zu Paraschat Wajeschew 5782 – Beitrag 1
Ergänzungen: S. Weinmann
"Ja’akow liebte Josef mehr als alle seine Brüder"
Wenn wir die Geschichte von Josef und seinen Brüdern studieren, lohnt es sich, den berühmten "Din Tora" (Rabbinisches Gerichtsverfahren) in Erinnerung zu rufen, der in der Jeschiwa von Woloschin, der Mutter aller Jeschiwot, stattfand. Es gab eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei grossen Rascheji Jeschiwa, die in der Jeschiwa unterrichteten, Raw Chaim Soloweitschik und dem "Netziw", Raw Naftoli Zwi Jehuda Berlin. Einer der Richter des Bejt Din (rabbinischer Gerichtshof), der herbeigerufen wurden, um den Din Tora anzuhören, war der Maggid von Wilna.
Der Wilnaer Maggid erwähnte gegenüber den anderen Richtern, dass der Din Tora mit Paraschat Wajeschew verbunden ist. Die anderen Dajanim (Richter) verstanden nicht, was der Wilnaer Maggid damit sagen will, da der Din Tora nicht in der Woche von Paraschat Wajeschew stattfand, sondern in einer ganz anderen Woche! Der Maggid von Wilna erklärte: In Sefer Berejschit, bis zu Paraschat Wajeschew, handeln sich alle Streitigkeiten zwischen einem "guten Menschen" und einem "Bösewicht". Wir haben die Auseinandersetzung zwischen Adam und der Schlange, zwischen Jizchak und Jischmael und zwischen Ja’akow und Ejsaw. Bei all diesen Auseinandersetzungen kann man mit Leichtigkeit entscheiden, in Bezug auf die Frage, welche Seite recht hat. In Paraschat Wajeschew jedoch, bezüglich der Auseinandersetzungen zwischen Josef und seinen Brüdern, ist es uns sehr schwer zu entscheiden, wer Recht hatte und wer nicht. Beide Seiten waren Zaddikim (Fromme). Beide Seiten hatten Gründe für ihre Taten. Deshalb ist es nicht so leicht zu entscheiden, wer Recht hat und wer nicht. Dies sei genau dasselbe in der Situation im Disput zwischen dem Netziw und Raw Chaim hier in Woloschin, sagte er.
Es ist wichtig, sich dieser Perspektive bewusst zu sein, wenn wir an Meinungsaustausche über die "Schwächen" der Stämme G"ttes in diesen letzten Paraschot von Berejschit teilnehmen.
Der Passuk sagt [37:4]: "Als die Brüder von Josef sahen, dass Ja’akow Awinu Josef mehr liebte als sie, begannen sie ihn zu hassen..." Ich habe eine psychologische Einsicht von Rabbi Dr. Abraham J. Twerski gesehen, die auf einer interessanten Analyse des Passuks basiert.
Oft empfinden wir Gefühle, auf die wir nicht stolz sind. Dies sind niedrige oder kleinliche Gefühle oder solche, die von unseren nicht so glorreichen Charakterzügen herrühren. Die Brüder fühlten, dass sie auf Josef eifersüchtig waren, aber sie konnten nicht einfach sagen, "Wir hassen Josef, weil unser Vater ihn mehr liebt als uns," da es ja nicht Josefs Fehler war, dass sein Vater ihn mehr liebte.
Menschen haben eine verblüffende Fähigkeit, ihr Verhalten zu begründen und zu versuchen, ihre niedrigen und unwürdigen Emotionen hochzuheben und zu versuchen, sie "verständlich" als etwas anderes zu erklären, als sie wirklich sind, damit sie auf sich selbst stolz sein können. Deshalb kamen die Brüder zum Schluss, dass es sie nicht störe, dass "Ja’akow Josef mehr liebt als mich"; was sie wirklich störe, war, dass "Ja’akow Josef mehr liebte als alle seine Brüder" (kol Echaw). Jeder Bruder setzte sich für die Rechte seiner Geschwister – die Benachteiligten – ein, die diskriminiert wurden, weil Jakow Josef mehr liebte als sie. "Persönlich bin ich ein Ba’al Middot (ein Mensch mit vorzüglichem Charakter), deshalb habe ich kein Problem mit diesem Problem. Ich hege keine Gefühle der Eifersucht, aber ich muss mich um die Gefühle meiner erniedrigten Brüder kümmern."
Die Ironie der ganzen Geschichte ist, dass dieselben Brüder, die sich für die Rechte der Benachteiligten einsetzten und über die Rechte der "anderen Brüder" sprachen, selbst in gewissem Masse an einer Unterdrückung der Geschwister mitschuldig waren. Chasal (unsere Weisen) sagen uns, dass Josef sich mit den Söhnen der Mägde (Bilha und Silpa) anfreundete, weil die Söhne von Lea auf sie herabschauten. Bezüglich Josef argumentierten sie zwischen sich, dass "dieser Josef unseres Hasses würdig ist, weil er verursacht, dass seine Brüder von Ja’akow geringgeschätzt werden". Dies verhinderte nicht, dass dieselben Brüder auf ihre anderen Brüder - Dan, Naftali Gad, Ascher - herabschauten. In diesem Fall kümmerten sie sich nicht um die Rechte der "Benachteiligten.
Es ist kein unbekanntes Phänomen, dass unsere eigenen Taten uns anklagen. Unsere Argumente zugunsten der Benachteiligten werden durch Dinge, die wir selbst tun und die genauso schlecht und vielleicht noch schlechter sind als das "Übel", das wir beklagen, vernichtet.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Rabbi Naftali Zwi Jehuda Berlin (Der „Neziw“) (1817-1893), Rosch Jeschiwa der berühmten Woloschiner Jeschiwa fast 40 Jahre lang, bis sie von der russischen Regierung im Jahr 1892 geschlossen wurde. Verfasser einiger bekannter Werke wie: Ha‘amek Dawar, Ha‘amek Sche'ejla, Mejschiw Dawar, etc.
- Rav Chajim Soloveitschik (1853 – 1918): Rosch Jeschiwa in Woloschin, anschliessend Rabbiner von Brisk (Brest-Litovsk); (bekannt als "Reb Chajim Brisker").
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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