Der schwierige Weg, den ein Ba’al Teschuwa manchmal durchstehen muss (Rav Frand Mikez 5781)
Der schwierige Weg, den ein Ba’al Teschuwa manchmal durchstehen muss
Die schwere Hungersnot hatte schon das Land Kena’an getroffen. Ja’akow fordert seine Söhne auf, nach Ägypten zu ziehen, um Nahrungsmittel für die Familie zu beschaffen. "So gingen Josefs Brüder – zehn von ihnen – nach Ägypten, um Getreide zu kaufen" (Berejschit 42:3). Raschi weist darauf hin, dass die Tora bis zu diesem Moment die Brüder immer als "Ja’akows Söhne" (Benej Ja’akow) bezeichnet hatte. Hier nennt die Tora sie zum ersten Mal "Josefs Brüder". Raschi führt näher aus: Dies lehrt uns, dass sie seinen Verkauf bedauerten und planten, ihn mit brüderlicher Liebe zu behandeln und ihn um jeden Preis von seinem Besitzer freizukaufen.
Sie hatten ihn als Sklaven verkauft und sie nahmen an, dass er immer noch als Sklave arbeitete. Sie waren bereit, ihn aus der Sklaverei auszulösen, welchen Preis sie dafür auch bezahlen werden müssen. Sie begannen mit den ersten Schritten der Teschuwa (Rückkehr).
Ich sah eine interessante Frage in einem Sefer namens Tiw Hatora von Rav Gamliel Rabinowitz. Wir befinden uns an der Schwelle der grössten Katastrophe, die Josefs Brüder widerfährt. Von diesem Moment an haben sie ein furchtbares Leben. Wir alle kennen die Geschichte – Josef erkennt sie, aber sie erkennen ihn nicht. Er beschuldigt sie, Spione zu sein. Er macht ihnen das Leben sehr schwer. Er zwingt sie, Binjamin mitzubringen. Auch der restliche Teil der Parascha und der Beginn von Paraschat Wajigasch erzählen, wie Josef seine Brüder durch die "sieben Abteilungen des Gehinnom (Hölle)" führte.
Ist es nicht ironisch, fragt Raw Rabinowitz, dass ihre Probleme beginnen, nachdem sie schon Teschuwa getan und beschlossen haben, dass sie ihren Bruder ungeachtet aller Kosten erlösen werden und nachdem sie ihre früheren Handlungen bedauert haben? Ist es nicht ironisch, dass Josef sie ausgerechnet jetzt all diese Schwierigkeiten durchstehen lässt? Wenn sie an ihrer Meinung festgehalten hätten, dass Josef ein Übeltäter und Verfolger sei, dann könnte es als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnet werden, dass er sie leiden liess. Da sie jedoch schon auf dem Weg der Teschuwa waren, stellt sich die Frage, warum Josef sie quälte?
Um diese Frage zu beantworten, erwähnt Rav Rabinowitz eine sehr interessante Betrachtung des Sefat Emet. Der Sefat Emet weist auf ein ähnliches Phänomen hin. In der letztwöchigen Parascha sah sich Josef einer grossen Versuchung gegenüber – die der versuchten Verführung durch Potifars Ehefrau. Hier befindet sich ein junger Mann, getrennt von seiner Familie, allein, und die Frau von Potifar versucht ihn zu verführen. Josef widersteht der Prüfung. Für diese geistige Errungenschaft erhält Josef den Titel "Josef HaZaddik" (der fromme Josef). Chasal (unsere Weisen) bemerken dies auf den Passuk "das Meer sah und es flüchtete" [Tehillim 114:3, beim Spalten des Roten Meeres], dass das Meer den Sarg von Josef sah und aus Ehrfurcht floh, genauso wie er vor der Verfolgung durch die Frau seines Herrn floh.
Was geschah mit Josef unmittelbar nachdem er der Prüfung widerstand? Er wurde in den Kerker geworfen. "Ist dies die Tora und ihre Belohnung?" Für diese Tat der Frömmigkeit, deren Nutzniesser wir noch heute sind, ist es Josefs unmittelbare "Belohnung", in eine Grube geworfen zu werden und dort während zwölf Jahren festgehalten zu werden. Wo liegt hier die Gerechtigkeit?
Der Sefat Emet erklärt die Angelegenheit so: Wenn ein Mensch eine Tat des Zidkut (Frömmigkeit, Gerechtigkeit) tut und den Prozess der Teschuwa beginnt und der Ribbono schel Olam (Herr der Welt) sieht, dass er den Weg der Teschuwa begonnen hat – so hilft Er ihm, eine vollständige Teschuwa zu erreichen, indem er ihn für seine vergangenen Taten bestraft. Josef musste büssen, weil er zu seinem Vater Laschon Hara (üble Nachrede) über seine Brüder sprach. Bis zu diesem Zeitpunkt war Josef noch nicht reif, die Strafe, die er laut dem Ribbono schel Olam erleiden musste, zu ertragen. Nachdem er dieses grosse geistige Niveau der Frömmigkeit – dass er dieser grossen Versuchung widerstand – erreicht hatte, sagte der Allmächtige: "Du hast den Prozess der Teschuwa begonnen, jetzt werde ich dir helfen, eine Teschuwa Gemura (vollständige Rückkehr) zu tun. Wie werde ich dies tun? Ich werde dich als Kappara (Sühne) für deine Sünde des Laschon Hara in den Kerker werfen lassen, damit du, wenn du aus diesem Kerker herauskommst, so rein wie frischer Schnee ans Sonnenlicht kommen wirst."
Aus diesem Grund wurde Josef gerade nach dem Vorfall mit Potifars Frau in den Kerker geworfen. Deshalb geht gemäss Rav Rabinowitz bei dem, was mit Josefs Brüdern geschah, dieselbe Logik und Begründung an: Weil sie jetzt den Prozess der Teschuwa begonnen hatten (sie bereuten Josefs Verkauf), sind sie reif genug, den Prozess der Teschuwa zu vervollständigen, indem sie die schrecklichen Torturen durch Josef erleiden. Dies schloss ihre Kappara ab.
Rav Rabinowitz fügt den folgenden interessanten Gedanken hinzu. (Ich kenne persönlich viele Fälle, bei denen ich dies gesehen habe, und es war für mich immer etwas Unerklärliches.) Manchmal beschliesst ein Mensch, ein Ba’al Teschuwa zu werden. Langsam, aber sicher wird er immer religiöser. Der Mensch hat ein fantastisches Geschäft und eine wunderbare Familie, und er beschliesst, Teschuwa zu tun. Er schliesst sein Geschäft am Schabbat mit grosser Selbstaufopferung.
Was geschieht danach? Der Himmel stürzt ein. Das Geschäft kracht zusammen. Er hat Familienprobleme. Die Hälfte der Familie weiss nicht, was mit ihm zu tun. Sie denken, dass er seinen Verstand verloren hat. Der Mann ist ein ehrlicher Ba’al Teschuwa; er hat sich aufgeopfert; er hat sein Geschäft am Schabbat geschlossen! Was geschah nach all dem? Sein Leben verschlechtert sich. Was ist die theologische Bedeutung von all dem? Ich habe dies schon zu oft gesehen, als dass man dies als eine seltene Fügung bezeichnen könnte. Wir würden denken, dass nachdem dieser Mann ein Ba’al Teschuwa wurde, Haschem ihn mit allen Arten von Belohnungen überschütten würde!
Raw Gamliel Rabinowitz sagt, dass dies dasselbe Phänomen ist. Bis jetzt war dieser Mann nicht in der Lage, diesen Prüfungen zu widerstehen. Jetzt hat er den Teschuwa-Prozess begonnen. Er hat ein anderes Niveau erreicht. Der Allmächtige will, dass er den Teschuwa-Prozess komplettiert. Um dies zu tun, muss der Ba’al Teschuwa offenbar Jissurim (Notlagen) erleiden, um für sein früheres Leben zu büssen. Deshalb muss er zuweilen – anstatt sofort die Vorteile eines Ba’al Teschuwa zu geniessen – Komplikationen durchstehen. Sicherlich ist das letztendliche Ziel von all dem, dass er aus diesen Prüfungen als viel reinerer Mensch hervorgehen wird. Er ist bereit, dies durchzustehen, weil er schon gezeigt hat, dass er den Mut hat, der nötig ist, um ein Ba’al Teschuwa zu werden.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Raschi (1040-1105) [Rabbi Schlomo ben Jizchak]; Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
- Sefat Emet: Rabbi Jehuda Leib Alter (1847 – 1905); der zweite Gerrer Rebbe; Polen. Verfasser von Werken zum Talmud und Erklärungen zum Chumasch.
- Rav Gamliel HaKohen Rabinowitz; Rosch Jeschiwa von Scha‘ar Hashamajim (Studium der Kabbala) in Jerusalem, Israel. Bekannter Rav, Dozent und Verfasser von Dutzenden von Werken, wie Tiw Hatora auf Chumasch.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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