Weshalb weint ihr jetzt? (Rav Frand Wajigasch 5782 - Beitrag 2)

Rav Frand zu Paraschat Wajigasch 5782 – Beitrag 2
Ergänzungen: S. Weinmann
Weshalb weint ihr jetzt?
Die folgende Diskussion behandelt ein psychologisches Phänomen, über das ich schon oft nachgedacht habe.
Im Passuk (Vers) wird berichtet, dass Josef und Binjamin einander um den Hals fielen und weinten, als sie sich endlich trafen. [Bereschit 45:14]. Raschi zitiert Chasal (unsere Weisen): Sie weinten, weil sie mit Newua (Prophetie) die Zukunft sahen. Josef weinte ob der zukünftigen Zerstörung der zwei Tempel, die in Binjamin’s Gebiet von Israel (Jerusalem) stehen würden. Binjamin hingegen weinte wegen der zukünftigen Zerstörung des Mischkan (Stiftzelt), das in Josef’s Gebiet (Schiloh) stehen würde. Die Frage stellt sich aber: Weshalb weinen sie jetzt?
Ich sah eine Erklärung von Raw Mordechai Pogmeranski von Tels. Raw Pogmeranski zitiert den Passuk: “Er wird den Tod für immer auslöschen, und Haschem, mein G’tt, wird die Tränen von allen Gesichtern wegwischen“ [Jeschaja 25:8]. Chasal lehren, dass die Worte “von ALLEN Gesichtern - me'al KOL Panim“ in diesem Pasuk andeuten, dass in Zukunft Haschem nicht nur die Tränen von Kummer und Sorgen wegwischen wird, sondern auch die Tränen der Freude.
Weshalb ist es notwendig, Freudentränen wegzuwischen? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie wir das Phänomen von “Weinen vor Freude” erklären. Raw Pogmeranski erklärt: “Leute weinen bei einer Simcha, weil sie wissen, dass Freude vorbeigeht. Jeder Feiernde realisiert tief im Innern, dass diese Freude nur ein kurzes Leben haben wird. Deshalb sagen Chasal, in der Zukunft werden nicht nur die Tränen der Trauer, sondern auch jene der Freude weggewischt werden. Denn in der Zukunft werden wir Freude erleben, die ewig dauert.
So erklärt Raw Pogmeranski die Tränen von Josef und Binjamin. Sie blickten in die Zukunft und sahen, dass beide Stämme das Haus von Haschem beheimaten würden - und dies war ein Grund zur Freude. Doch gleichzeitig sahen sie das Ende dieser g’ttlichen Häuser voraus - und dies erfüllte sie mit Trauer und sie weinten.
Wenn ich meine bescheidene Meinung äussern darf, würde ich sagen: Ich glaube nicht, dass dies eine plausible Erklärung von „Tränen der Freude“ ist. Ich würde gerne zwei andere Erklärungen vorschlagen, weshalb Leute weinen, wenn sie glücklich sind.
Zuerst einmal glaube ich, dass Weinen ein Weg ist, um starke Emotionen auszudrücken. Wenn ein Mensch intensive Emotionen verspürt, dann weint er. Man weint wegen grosser Mühe aber auch vor Glück. Es sind zwei Seiten derselben Münze. Emotionen lösen auf dem Höhepunkt Tränen aus.
Ein weiterer Grund: Man weint bei einer Simcha, weil ein Mensch überwältigt ist, wenn er einen solchen Wendepunkt im Leben erreicht. Er denkt zurück, was er bisher erlebt hat. Wenn wir einen solchen Meilenstein erreichen - die Geburt eines Kindes, wenn es Bar-Mizwa wird oder heiratet - dann erinnern wir uns an den Schweiss, die Tränen und die schwere Arbeit, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Deshalb spürt man in jeder Simcha neben dem Glücksgefühl auch: “Wieviel hat es mich gekostet, um dieses Ziel zu erreichen!“ In jedem Moment des Glücks fühlt man auch die Schwierigkeiten des zurückgelegten Weges.
Dies erklärt den oben zitierten Pasuk von Jeschaja. In der Zukunft, wenn „unser Mund voll Freude“ sein wird, wird die Simcha so überwältigend sein, dass der schmerzvolle Aspekt dieser Emotionen unterdrückt sein wird.
Wenn wir jedoch die Erklärung von Raw Mordechai Pogmeranski ablehnen, kehren wir wieder zur ersten Frage zurück: “Weshalb weinten Binjamin und Josef, als sie sich trafen?“
Der Sefat Emet sagt dazu: Die Begegnung zwischen Josef und Binjamin ist in ihrem weiteren Kontext zu sehen. Dieser langersehnte Moment wurde durch die Entfremdung Josef’s von seinen Brüdern und seinem Verkauf durch seine Brüder herbeigeführt. Sie trafen sich erst jetzt wegen Sin’at Achim [Bruderhass] und wegen Sin’at Chinam [ungerechtfertigtem Hass].
Tief drinnen wussten sie beide: zwar herrscht jetzt Frieden zwischen den Brüdern, doch der hässliche Streit würde wieder aufbrechen. Und diese Zwietracht würde die beiden Tempel im Landesteil von Binjamin und auch das Mischkan (Stiftzelt) im Teil von Josef zerstören. In diesem Moment war es beiden sehr deutlich bewusst, was Sin’at Achim und Sin’at Chinam für verheerende Folgen haben kann. Deshalb, als sie sich anschauten und die G’tteshäuser sahen, die in den jeweiligen Landesteilen stehen würden, sagten sie: „Dieses Kapitel des Streits ist noch nicht vorüber.“ Sie sahen, dass dies erst der Auftakt war zu weiterem Zwietracht zwischen den Brüdern, und deshalb weinten sie.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Raschi (1040-1105) [Rabbi Schlomo ben Jizchak]; Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
- Rabbi Mordechai Pogremansky (1903 - 1950), prominente Persönlichkeit (Iluj – Genie) der litauischen Jeschiwot, wie Kelm, Tels, und Kovno. War ein grosser Zaddik. Leitete einige Jeschiwot, wie Tomchej Temimim (Lubawitsch) in Riga (Lettland) und Heide (Belgien). Überlebte den Holocaust im Ghetto Kowno. Nach dem Krieg gründete er eine Jeschiwa in Frankreich. Er litt u.a. an Tuberkulose; heiratete 1949 und verschied 1950 in der Schweiz an einer schweren Krankheit. Wurde zur Beerdigung nach Israel gebracht und in Benej Berak beigesetzt. Der Chason Isch weinte fürchterlich bei seiner Lewajo (Begräbnis).
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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