Ein Herzensgespräch (Rav Frand, Wajigasch 5784)

Rav Frand zu Paraschat Wajigasch 5784
Ein Herzensgespräch
Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
"Und Jehuda trat näher..." [Bereschit 44:18]. Man war gerade dabei, Binjamin gefangen zu nehmen. Jehuda erkannte die möglichen Folgen, trat deshalb Josef entgegen und setzte zu einer offenen Rede an. Die Informationen, die Jehuda Josef in den ersten Pessukim (Versen) gab, sind eine Zusammenfassung der Ereignisse, die sich in Paraschat Mikez ereignet hatten.
Der Midrasch Rabba zur Stelle [93:2] erklärt, dass die Begegnung zwischen Jehuda und Josef ein Treffen zweier Könige darstellte. Die zwei Könige waren Josef, der die Könige des Malchut Jisrael der zehn Stämmen und Maschiach ben Josef (und zurzeit das ägyptische Königshaus) repräsentierte, und Jehuda, von dem dereinst der Stamm der Könige Jisraels und Maschiach ben David abstammen würden. Die Brüder standen abseits und sprachen: „Da sprechen zwei Könige miteinander, da schickt es sich nicht, dass wir mitreden!“
Der Midrasch will möglicherweise folgende Frage beantworten: Was hatte sich eigentlich geändert? Wir finden in diesem Gespräch keine neuen Elemente. Jehuda erwähnte keine neuen Argumente, die dem ägyptischen Vizekönig klarmachen könnten, wieso er Binjamin doch nicht als Geisel zurückhalten sollte. Josef hatte die Argumente über den alten Vater und die Verzweiflung, in die er ihn stürzen würde, bereits einmal gehört. Diese Argumente hatten ihn offensichtlich nicht beeindruckt. Was glaubte Jehuda nun zu erreichen, wenn er dieselben Darlegungen noch einmal wiederholte?
Und doch: Plötzlich "erreichte" Jehuda Josef. Wieso? Was hatte sich geändert? Rav Alpert, seligen Andenkens, führt dazu den folgenden Gedanken an: Bei allen anderen Gesprächen, die Jehuda und Josef miteinander führten, stand ein Dolmetscher zwischen ihnen. Josef spielte immer noch den Ägypter, der kein Hebräisch verstand. Jehuda versuchte, mit ihm über Mittelsmänner zu verhandeln – wie zwei Unterhändler, die die Arbeiter und Unternehmer vertreten und miteinander einen Vertrag auszuhandeln versuchen.
Dieses Mal wurde nicht mehr verhandelt. Jehuda ging direkt zu Josef und schüttete ihm sein Herz aus. Das war der Unterschied. Bis anhin hatte Jehuda wie ein Politiker oder Staatsmann zu Josef gesprochen. Er behielt seine Fassung. Er verwendete diplomatische Floskeln. Er sprach die richtigen Worte. Sie hatten, wie öfters in den Nachrichten gesagt wird, eine "offene und freimütige Unterredung".
Diesmal war kein Zwischenträger dabei. Hier war nur Jehuda, der Josef sein Herz ausschüttete (obwohl anzunehmen ist, dass ein Dolmetscher anwesend war). Das war es, was durchkam. Spricht ein Mensch direkt aus seinem Herzen und gibt seinen echten Gefühlen Ausdruck, ist die Botschaft klarer als alles, was ein Bote übermitteln kann.
Vom Chafez Chajim gibt es eine berühmte Geschichte. Im Jahre 1930 versammelten sich die Admorim, Rabbanim und Raschej Jeschiwot von ganz Polen unter der Leitung des greisen Chafez Chajim in Warschau, um gegen antijüdische Gesetze der polnischen Regierung zu beraten. Der Beschluss wurde gefasst, dass eine Delegation dem polnischen Ministerpräsidenten Kazimierz Bartel ihre Anliegen vorbringen sollte.
Die Delegation bestand aus den folgenden Persönlichkeiten: Der Chafez Chajim, die Admorim (Rabbis) von Belz, Gur und Alexander, dem jüdischen Abgeordneten des Sejm (polnischen Parlament), Ascher Mendelsohn, als Übersetzer, und Rav David Schreiber. Zur abgemachten Stunde wurde die Delegation beim Ministerpräsidenten empfangen; der bereits über 90-jährige Chafez Chaim wurde altersbedingt auf einem Stuhl hineingebracht.
Als die Delegation bei Bartel erschien, zeigten alle auf den Chafez Chaim – als geistigen Führer des jüdischen Volkes. Der Chafez Chajim sprach kein Polnisch – und trug deshalb sein Anliegen auf Jiddisch vor. Nachdem der Chafez Chajim seine Darlegungen beendet und sein Herz ausgeschüttet hatte, wollte der Dolmetscher diese für den Ministerpräsidenten ins Polnische übersetzen.
Der Ministerpräsident sagte jedoch: „Du brauchst gar nicht mehr zu übersetzen. Ich verstehe die aus dem Herzen kommenden Worte – denn die Herzenssprache ist eine universale Sprache. Was dieser Mann mir sagen will, ist bereits zu mir durchgedrungen. Ich werde mich für alle seine Anliegen einsetzen. Ich gebe seinem Ansuchen statt!“
Der Regierungschef verstand kein Wort Jiddisch. Er fühlte den Schmerz, die Ängste, die Aufrichtigkeit und die Aufopferung („Messirut Nefesch“), die der Chafez Chajim für diese Angelegenheit empfand. Er brauchte deshalb keinen Dolmetscher. Was keiner der Askanim (jüdische Sejm-Deputierte, Gemeinde-Vorsteher, etc.) erreichen konnte, erreichte der greise Chafez Chajim mit seinen Worten aus dem Herzen.
Dies ist der Unterschied zwischen dem Dialog von Jehuda und Josef hier in Paraschat Wajigasch und ihren früheren Gesprächen in Paraschat Mikez. Zuerst behandelten sie einander wie Politiker. Die Feinheiten der Politik und der Verhandlungstechniken berührten Josef nicht. Jetzt aber schüttete Jehuda ihm ungehindert sein Herz aus. In dieser Episode, so kommentiert der Midrasch, wurden Josef und Jehuda eins. Sie wurden wieder Brüder. Dieses Mal sprach der wahre Jehuda – und der wahre Josef hörte zu. Worte, die von Herzen kommen, sind diejenigen, die auch zu Herzen gehen.
Quellen und Persönlichkeiten:
- Midrasch Rabba (der grosse Midrasch): Grosse Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch der Tanna’im (Mischnagelehrten) und Amora’im (Talmudgelehrten).
- Chafez Chajim: (1838-1933): Rabbi Jisrael Me’ir HaKohen von Radin. Autor grundlegender Werke zu jüdischem Recht und jüdischen Werten (Halachah, Haschkafah und Mussar), wie die Werke ‚Mischna Berura‘, ‚Chafez Chajim‘, ‚Schmirat Halaschon‘, etc. Einer der prominentesten Führer des orthodoxen Judentumsvor dem 2. Weltkrieg.
- Rav Nissan Alpert [Limudej Nissan] (gest. 1986): Schüler und Nachbar von Rabbi Mosche Feinstein; gestorben kurz nach Rabbi Mosche. Autor des Bibelkommentars Limudej Nissan. Rav der Agudah Long Island in Far Rockaway und Lehrer an der Jeschiwah "Rabbenu Jitzchak Elchanan"(RIETS); New York City.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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