Raw Frand zu Parschat Nasso 5762
Der Nasir: Heiligkeit aus eigener Kraft
Parschat Nasso enthält die Gesetze über den "Nasir". Jeder Jude kann die Keduscha (Heiligkeit) des Nasirats auf sich nehmen. Diese ist stärker als die Heiligkeit eines gewöhnlichen Kohens (Priesters). Der Pasuk (Vers) sagt dazu: "Die ganze Zeit, da er dem Ewigen Enthaltsamkeit gelobt hat, darf er zu keiner Leiche kommen. An seinem Vater und an seiner Mutter, an seinem Bruder und an seiner Schwester darf er sich nicht verunreinigen („tameh“, rituell unrein, werden) wen sie tot sind; denn G'ttes "Neser" – Weihe – ist auf seinem Haupt". Die ganze Zeit seiner Enthaltsamkeit ist er dem Ewigen heilig [Bamidbar 6:6–8]. Ein Nasir darf nicht einmal wegen der sieben verstorbenen nahen Verwandten tameh werden, deretwegen ein gewöhnlicher Kohen tameh werden darf. Ausser dem Nasir ist es nur noch dem Kohen Gadol (Hohepriester) verboten, beim Tod dieser nahen Verwandten tameh zu werden.
In der Tat steigt der Nasir auf die gleiche Stufe der Heiligkeit wie der Kohen Gadol. Der Awnej Neser erklärt, wieso die Keduscha des Nasirs viel stärker ist, als die eines gewöhnlichen Kohens. Der Kohen erhält die Keduscha von seinem Vater. Es ist deshalb richtig, dass er seine Keduscha zu Ehren seines Vaters entweihen darf. Die Keduscha darf für die Beerdigung von Familienangehörigen in den Hintergrund treten, weil diese Keduscha ja von der Familie stammt. Die Keduscha eines Nasir (und die Keduscha des Kohen Gadol) rührt nicht von der Familie her. Das Nasirat ist vielmehr das Resultat von persönlichen Anstrengungen und dem Bemühen um geistige Erhebung. Seine Keduscha ist wichtiger als seine eigene Familie, weil sie nicht von der Familie geerbt wurde, sondern weil sie das Ergebnis seiner eigenen Bemühungen und seiner Enthaltsamkeit ist. Deshalb darf er nicht, wie ein gewöhnlicher Kohen, tameh werden – sogar wenn es sich um die sieben nahen Verwandten handelt.
Der Schemen HaTov sagt im Namen des Sefat Emet, dass in diesem Gedanken nicht nur das Gefühl von Gerechtigkeit und Fairness steckt. Der Gedanke lehrt uns auch, dass selbst erworbene Keduscha stärker und tiefer verwurzelt ist als diejenige, die von einer anderen Quelle herrührt oder die einem als Geschenk in den Schoss gefallen ist. Was man sich mit seinen eigenen geistigen Bemühungen erarbeitet hat, ist eine viel grössere Errungenschaft als etwas, das dem Menschen deshalb zukommt, weil sein Nachname eben "Cohen" heisst.
Entschuldigen Sie den Vergleich, aber es gibt zwei Arten, wie man auf dieser Welt zu Geld kommt: Entweder erbt man den Reichtum von seinem Vater oder man geht und verdient sich sein Geld selbst. Der zweite Weg sagt selbstverständlich mehr über den Menschen aus. Es ist sicher viel beachtlicher, wenn jemand sein Geld selbst erarbeitet, als wenn er einfach die dritte oder vierte Generation einer Millionärsfamilie, wie die Kennedys, die Rockefellers oder die Vanderbilts ist.
Das ist die tiefere Bedeutung des Nasirats. Ein Nasir hat die Keduscha mit eigener Kraft erworben. Deshalb verfügt er über eine stärkere und vollkommenere Keduscha, als ein gewöhnlicher Kohen.
Der Sefat Emet verknüpft diesen Gedanken mit der Lehre unserer Weisen zum Vers: "Ein Name ist mehr als gutes Öl …" [Kohelet/Prediger 7:1]. Die Weisen sagen, dass dieser Pasuk den Vorzug von Chananja, Mischael und Asarja (drei Propheten im babylonischen Exil) gegenüber Nadav und Awihu (Arons Söhne) erklärt. Der Status der ersten drei, die aus dem Feuerofen gerettet wurden [Daniel Kap. 3], ist höher als der von Nadav und Awihu, die nicht vor dem "fremden Feuer" gerettet wurden[Wajikra 10:1-2].
Warum war dies so? Weil Nadav und Awihus Keduscha von "gutem Öl" herrührte. Nadav und Awihu bekamen die Keduscha des Priestertums, weil G'tt Aron und seine Kinder zum Priester salbte. Obwohl sie sicherlich hochstehende Menschen waren, verdankten sie ihre Position im Grunde genommen ihrer Abstammung, einem "Geschenk" G'ttes.
Chananja, Mischael und Asarja hingegen erarbeiteten sich ihre Keduscha selbst. Sie erreichten ihre Keduscha nicht wegen "gutem Öl", sondern wegen ihrem ausserordentlichen Ruf – dem "guten Namen" – und damit ausschliesslich ihren eigenen Bemühungen.
Man soll nie vergessen, dass es zwei Grundlagen gibt, mit denen man eine Beziehung zu G'tt aufbaut. Es gibt "Dies ist MEIN G'tt und ich will Ihn rühmen“, und es gibt "der G'tt meines VATERS und ich will Ihn rühmen [Schemot 15:2]. Genau in die gleiche Richtung geht, was in chassidischen Werken geschrieben steht: Ein Mensch soll mit zwei grundsätzlich widersprüchlichen Gedanken durchs Leben gehen. In eine Tasche soll er den Satz "Ich bin Staub und Asche" [Bereschit 18:27] legen und in die andere Tasche den Satz "Wegen mir wurde die Welt erschaffen" [Sanhedrin 37a].
Daraus folgt, dass ein Mensch mit dem Gedanken "dies ist MEIN G'tt" durchs Leben gehen soll. Ich habe meine eigene, direkte Verbindung zum Herrn der Schöpfung. Ich muss mich bemühen und meinen eigenen Weg finden, wie ich G'tt rühmen und ihm dienen kann. Aber gleichzeitig soll ich auch nicht vergessen, dass er der G'tt meiner Vorväter ist. Man kann nicht einfach nonchalant die Überlieferungen der Eltern über Bord werfen. Die ganzen Bemühungen, wie man eine persönliche Beziehung zu G'tt aufbaut, müssen auf den Überlieferungen, die einem von den Eltern weitergegeben wurden, gründen. Im Rahmen dieser Tradition soll der Mensch jedoch neue Wege aufspüren und seine persönliche Bindung zu G'tt aufbauen, die am Ende die Verbindung von "der G'tt meines Vaters" überdeckt.
Das ist die Bedeutung des Nasirates. Der Nasir beginnt, selbst seine Keduscha aufzubauen und stützt sich nicht unbedingt auf das Erbe der Vorfahren. Aus eigener Kraft steigt der Nasir in seiner Heiligkeit. Er erreicht diese Stufe durch sein eigenes Streben und seine Hingabe zu G‘tt.
Quellen und Persönlichkeiten:
Awnej Neser (1838 – 1910): Rav Avraham Bornstein; Rabbiner in Sochaczew; Polen.
Schemen HaTov: Rabbi Dov Weinberger. Zeitgenössischer Autor; Rabbiner in Brooklyn, New York.
Sefat Emet (1847 - 1905): Rabbi Jehuda Leib Alter; der zweite Gerrer Rebbe; Polen.
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