Die Macht der Hintergedanken (Raw Frand, Schelach Lecha 5783)
Rav Frand zu Paraschat Schelach Lecha 5783
Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Die Macht der Hintergedanken
Der erste Teil unserer Parascha befasst sich mit dem Auftrag an die Meraglim (Kundschafter) das Land Kena’an auszuspionieren. Einer der Maraglim war Hoschea bin Nun vom Stamm Efrajim. Die Tora bringt in diesem Zusammenhang, dass Mosche Rabbejnu seinen Namen änderte, wie es heisst: “…und Mosche nannte Hoschea bin Nun Jehoschua.“ [Bamidbar 13,16].
Der Targum Jonatan ben Usiel erklärt uns auf interessanter Weise den Hintergrund dieser Namensänderung: Er fügt folgendes hinzu: „Als Mosche dessen ausserordentliche Bescheidenheit sah, nannte er Hoschea bin Nun Jehoschua.“ Der geänderte Name bedeutet (wie Raschi sagt): “Möge G’tt dich von der Verschwörung der Kundschafter retten (Jud-Hej hoschea).“
Was bedeutet dieser Targum? Wo bemerkte Mosche die ausserordentliche Bescheidenheit seines Schülers Hoschea? Und was war an dieser Eigenschaft negativ, dass er seinen Namen ändern musste? Und was war der Grund der Meraglim, dass sie Negatives über das Land sprachen?
Die Kundschafter waren bedeutende und angesehene Personen. Sie waren grosse Menschen und Führer der Nation. Was brachte sie dazu - nach ihrem Zurückzukommen in der Nacht von Tisch’a beAw - uns grauenhafte Probleme zu verursachen, unter denen wir bis zum heutigen Tag leiden? Der Sohar drückt sich wie folgt aus: ‘Die Meraglim dachten folgendes: “Hier sind wir ‘Raschim’ (wörtlich: Häupter) und im Land (Jisrael) werden wir nicht den Verdienst haben ‘Raschim’ zu sein.“ Die allgemeine Sinndeutung dieses Ausspruches ist, dass die Meraglim erkannten, dass das ganze System sich ändern würde, wenn sie in das Land Israel kämen. Es würde eine neue Obrigkeit und eine neue Führung geben. Sie nahmen an, dass sie mit dem Einzug ins Land Israel ihre Führungspositionen verlieren würden.
Der Sefat Emet [5639] ist mit dieser Sinndeutung nicht zufrieden. Die Meraglim waren auserwählte Persönlichkeiten und es ist nicht anzunehmen, dass sie solch niedrige Gedanken hatten. Deshalb drückt er ihren Gedankengang wie folgt aus: ‘Ihnen gefiel die enge Beziehung mit dem Allmächtigen, die sie in der Wüste hatten. Sie fühlten, dass die einzigartige und beispiellose Art des geistigen Lebens die höchste Lebensform war, die es auf dieser Welt geben kann. Sie wollten diese offene Hand des Allmächtigen nicht aufgeben durch einen Wechsel zu einer natürlicheren Lebensform ohne Man (Manna), ohne eine G’ttliche Wasserquelle, ohne den Schutz der Wolken und ohne alle damit verbundenen Erfahrungen in der Wüste. Sie wussten, dass sie in Erez Israel arbeiten müssten, um ihren Unterhalt zu verdienen. Alles würde sich ändern in Richtung auf eine ganz natürliche Lebensform. Die von Wundern geprägte Lebensform, wie sie sie in der Wüste erlebt hatten, würde der Vergangenheit angehören.
Die Kundschafter waren die Gesandten, die Vertreter des jüdischen Volkes und ihre Überlegungen galt dem ganzen Volk. Der Ausdruck ‘Raschim’ (Häupter) galt dem gesamten Volk. Diese Generation, die mit grossen Wundern aus Ägypten ausgezogen war und von G-tt die zehn Gebote hören durfte und die Tora empfing, sie waren die ‘Raschim’ (Häupter) aller folgenden Generationen. Sie waren auf einer äusserst hohen geistigen Stufe, lebend 24 Stunden in der g-ttlichen Gegenwart und direkt versorgt von Ihm in allen Belangen, dies alles würde beim Eintritt in das Land Jisrael verloren gehen. Zweifelsohne würden das ganze Volk in geistiger Hinsicht nicht mehr auf der Stufe von ‘Raschim’ (Häupter) sein.
Im Unterbewusstsein färbte dieser Hintergedanke ihre Wahrnehmung von allem, was sie in Erez Jisrael sahen und anschliessend was sie Mosche und dem Rest des Volks berichteten. Wir alle wissen, was Hintergedanken bewirken können. Sie verfälschen unser Urteil.
Die Lehre von den Kundschaftern ist, dass ein Mensch, auch wenn er eine grosse Persönlichkeit ist, von seinen verschiedenen Interessen (Negiot) beeinflusst wird – sei es Geld, Macht, Stellung, Sicherheit, oder sogar auch geistige Belange.
Was war falsch an den Überlegungen der Meraglim? Sagt der Sefat Emet: Ganz einfach, es war gegen des g-ttlichen Willen. G-tt wollte, dass sie in Erez Jisrael in einer natürlichen Lebensform G-tt dienen sollen, trotz allen Anstrengungen, Prüfungen und Beschwerlichkeiten. Engel hat der liebe G-tt genug. Unsere Lebensaufgabe hier auf der Welt ist es die weltlichen Dinge zu heiligen und dem lieben G-tt hier in der materillen Welt eine Wohnstätte zu bauen.
Und nun zu den weiteren Fragen: Wo bemerkte Mosche die ausserordentliche Bescheidenheit seines Schülers Hoschea? Und was war an dieser Eigenschaft negativ, dass er seinen Namen ändern musste?
Der Koschnizer Maggid, in seinem Werk Awodat Jisrael bringt dazu die folgende Idee:
Hintergedanken können trejfe (ungehörig) sein, sie können aber auch koscher (korrekt) sein. Die Parascha der letzten Woche enthielt ein Beispiel für koschere Hintergedanken: „Und es rannte der Jüngling und erzählte Mosche: Eldad und Mejdad prophezeien im Lager.“ Darauf schlug Jehoschua vor: „Mein Herr Mosche, ‘kela’em’ (Raschi: Sperre sie im Gefängnis ein)“ [Bamidabar 11:27-28].
Was für ein Verbrechen war ihre Prophezeiung? Was regte Jehoschua so sehr auf? Jehoschua war bestürzt über ihre Prophezeiung. Sie prophezeiten, dass Mosche sterben und Jehoschua das Volk nach Israel führen würde. Jeder andere Stellvertreter hätte sich über eine solche Prophezeiung gefreut. Jehoschuas Reaktion war das genaue Gegenteil: “Wirf sie ins Gefängnis!“.
Mosche Rabbejnu erkannte in dieser Reaktion die grosse Bescheidenheit von Jehoschua. Jehoschua war eine Person, die vor Ehre floh. Er wollte nicht Führer sein. Mosche Rabbejnu schloss daraus, dass er auch im Hintergedanken haben könnte, nicht nach Israel gehen zu wollen. Jehoschua ahnte nach dieser Prophezeiung, dass die Juden ohne Mosche in das Land Israel ziehen würden. Er würde der Führer sein müssen. Jehoschuas unglaubliche Bescheidenheit liess ihn daher wünschen, dass dies nicht geschehen solle.
Das meint der Targum Jonatan ben Usiel. Als Mosche Rabbejnu Jehoschuas grosse Bescheidenheit sah, erkannte er, dass auch er Gefahr laufen könne von Hintergedanken beeinflusst zu werden. Diese könnten ihn dazu führen, seinen Bericht so zu färben, dass er sich gegen den Einzug ins Land Israel ausspricht. Es waren lobenswerte und koschere Hintergedanken, aber trotzdem Gedanken, die sein Urteil - gegen den g-ttlichen Willen - hätten negativ beeinflussen können. Aus diesem Grund segnete Mosche ihn damit, dass der Allmächtige ihn davor bewahren solle, sich mit den Kundschaftern zusammenzutun, die weniger noble Motive hatten: „Jehoschua, gerate nicht in die Falle der Verschwörung der Meraglim.“
Quellen und Persönlichkeiten:
Jonathan ben Usiel war einer der 80 Tanna’im (Mischna-Gelehrte), die während der Zeit des römisch regierten Judäa bei Hillel studierten. Er war der Grösste aller Schüler Hillels. „Es wurde auf Jonatan ben Usiel gesagt, dass jedes Mal, wenn er sich hinsetzte, um sich mit der Tora zu befassen, jeder Vogel, der über seinem Kopf schwebte, durch seine Worte verbrannt wurde (Raschi: Weil sich die Engel um ihn scharten, um die Worte der Tora von ihm zu hören)“ [Talmud Traktat Sukka 28a]. Der Talmud [Traktat Megila 3a] erklärt, dass er eine aramäische Übersetzung der Propheten anfertigte, die noch heute erhalten ist. Es wird nicht erwähnt, dass er die Tora übersetzt hätte. Daher sind sich die Gelehrten darin einig, dass dieser Targum nicht von Jonatan ben Usiel stammt, obwohl er so genannt wird. Sein Grab in Amuka wird rege besucht. Viele unverheiratete Männer und Frauen kommen hin und beten dort für einen guten Ehepartner.
Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
Rabbi Jisrael ben Schabtai Hopstein von Koschnitz (1733 - 1814), der „Koschnitzer Maggid“, einer der bedeutendsten chassidischen Rebbes und Kabbalisten in Polen. Einer seiner Hauptwerke: Awodat Jisrael, Erklärungen zur Thora.
Rabbi Jehuda Leib Alter (1847 – 1905); der zweite Gerrer Rebbe; Polen. Verfasser der bekannten Werke Sefat Emet zum Talmud und Erklärungen zum Chumasch.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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