Die Macht des Gebetes (Rav Frand, Korach 5783)
Rav Frand zu Paraschat Korach 5783
Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Die Macht des Gebetes
Mosche Rabbejnu und Aharon Hakohen wurden von Korach und seinen Anhängern herausgefordert. Mosche veranlasste einen Test, um zu bestimmen, wer der von G"tt erwählte Kohen Gadol (Hohepriester) sei, welcher befugt war, Haschems Dienst im Mischkan auszuführen. Mosche forderte Korach und seine 250 Anhänger heraus, mit Aharon zu konkurrieren, um eine G"ttliche Reaktion auf ihre persönlichen Ketoret- (Räucherwerk-) Opfer vor Haschem auszulösen. Nachdem er dieses Experiment vorgeschlagen hatte, betete Mosche Rabbejnu zu Haschem und bat Ihn, die Ketoret Opfer von Korach und seinen Anhängern nicht anzunehmen: "Wende Dich nicht ihrem Opfer zu…" [Bamidbar 16:15].
Der Ramban fügt hinzu, dass Mosche nicht nur dafür dawente, dass das Ketoret-Opfer dieser Gruppe nicht angenommen werden sollte, sondern er betete auch, dass auch ihre Gebete und Bittgesuche ignoriert werden sollten.
Wir können uns wundern – war dies wirklich nötig? War es für Mosche wirklich wichtig, den Allmächtigen anzuflehen, ihre Gebete nicht anzuhören? Könnten wir denn annehmen, dass falls sie wirklich zu Haschem dawenen (beten) würden, Er solle sie in ihrer Rebellion gegen Mosche und Aharon unterstützen, Haschem ihre Gebete anhören würde?
Schliesslich war dies doch eine "besiegelte Sache" seit den ersten sechs Tagen der Schöpfung. Die Mischna sagt [Awot 5:9], dass der "Mund der Erde", der dazu bestimmt war, Korach und seine Anhänger zu verschlingen, eines der zehn Dinge war, die in der Abenddämmerung des ersten Erew Schabbat der Schöpfung erschaffen wurden. Diese Sache war seit Menschengedenken bestimmt. Es gab also keine Möglichkeit, dass sie gegen Mosche und Aharon gewinnen würden. Warum also musste Mosche zu Haschem dawenen und sagen: "Höre nicht auf ihre Gebete"?
Raw Simcha Sissel von Kelm sagt, dass wir von hier lernen können, dass wir die Macht des Gebetes nie unterschätzen sollten, woher dieses auch kommen mag. Dies ist ein Gedanke, den wir über die Jahre hinweg schon oft betont haben. Trotz der Tatsache, dass es in der Schöpfung vorprogrammiert war, dass die Erde einen "Mund" haben sollte, der Korach und seine Anhänger verschlingen würde, hätte das Gebet dieser Menschen – wären sie aufrichtig gewesen – wirksam sein können. Dies ist die Macht des Gebets, dass auch, wenn es von verdorbenen Menschen ausgesprochen wird, es eine gewaltige Kraft besitzt, wenn es ehrlich aus der Tiefe ihrer Seelen kommt. Deshalb fand Mosche Rabbejnu sich genötigt, zu dawenen: "Höre nicht auf ihre Gebete"!
Das gleiche Prinzip kann in noch dramatischerer Weise in einer bekannten Mischna in Traktat Makkot [2:6] gesehen werden. Die Mischna lehrt, dass ein Mensch, der unabsichtlich jemanden tötete, in einer Ir Miklat (Zufluchtsstadt) verbleiben muss, bis der Kohen Gadol stirbt. Wir können uns deshalb vorstellen, dass die gesamte Gemeinschaft in der Ir Miklat täglich dafür betet, dass der Kohen Gadol sterben soll. Nur so würden alle unabsichtlichen Mörder, die dort leben müssen, ihre Freiheit wiedererlangen können. Um solche Gebete zu verhindern, lehrt uns die Mischna, dass die Mütter der Kohanim Gedolim (Hohepriester) dauernd Pakete mit Essen und Kleidern diesen Mördern brachten, damit sie mit ihnen und ihren Söhnen Erbarmen haben und nicht dafür dawenen würden, dass der Kohen Gadol sterben solle.
Der Talmud zu dieser Mischna [Traktat Makkot 11a] stellt die Frage: "Und wenn nun eine ganze Gemeinschaft von Mördern jeden Tag aufsteht und den Kohen Gadol verflucht oder betet, das er sterben soll, warum sollte ein solch ungerechtfertigtes Gebet angenommen werden?" Der Talmud Bawli (babylonische Talmud) gibt eine Antwort, dass der Kohen Gadol eine gewisse Schuld trägt, dass so etwas schreckliches geschehen konnte. Warum? Weil er hätte beten müssen, dass während seines Lebens ein solcher Unfall dem jüdischen Volk nicht zustosse (Raschi zitiert diese Antwort in Paraschat Mass’ej [Bamidbar 35:25]).
Der Talmud Jeruschalmi [israelischer Talmud] jedoch gibt eine andere Antwort. Der Jeruschalmi unterscheidet zwischen einem Fluch und einem Gebet. Ein bedeutungsloser Fluch wird nicht wirksam sein; ein ehrliches Gebet kann jedoch nicht einfach verworfen werden. Sogar eine Tefilla eines Mörders gegen einen Kohen Gadol kann wirksam sein. Dies ist die Macht des Gebets.
Mit diesem Denkansatz beantwortet Raw Meir Bergman eine Frage, die wir vor kurzem besprochen haben. Der Talmud (Traktat Berachot 10a) erzählt, dass eine Gruppe von Gangstern Rabbi Meir (Ba’al Haness) belästigten und er dawente, dass sie sterben sollten. Rabbi Meirs Frau, Bruria, riet ihm, dass er – anstatt zu dawenen, dass sie sterben sollten – lieber dafür dawenen sollte, dass sie Teschuwa (Rückkehr, Reue) tun sollten. Er nahm ihre Empfehlung an, betete für sie und sie taten Teschuwa.
Der Maharscha stellt zu dieser Gemara eine fundamentale Frage. Wie konnte Rabbi Meir dafür dawenen, dass jemand Teschuwa tun solle? Jeder Mensch hat doch eine Bechira Chofschit (freie Wahl). "Wahlfreiheit" ist ein Grundglaube der jüdischen Religion. Das Konzept bedeutet, dass der Mensch nicht gezwungen ist, sich für „gut“ oder „böse“ zu entscheiden, sondern die freie Wahl zwischen beiden hat. Dies ist natürlich die grundlegendste Wahl von allem, die die Tora mit der Wahl zwischen „Leben“ und „Tod“ definiert, für die die Tora empfiehlt [Dewarim 30:19]: „…so wähle denn das Leben…“. Oder wie der Talmud [Traktat Berachot 33b] dies ausdrückt: „Rabbi Chanina sagt: Alles liegt in den Händen des Himmels, ausser der „Furcht vor dem Himmel“.
Teschuwa hängt vom freien Willen eines Menschen ab! Sie ist gänzlich von der eigenen Initiative eines Menschen abhängig, sodass Gebete für eine G"ttliche Intervention für Teschuwa gänzlich unanwendbar sein sollten. Verschiedene Antworten wurden auf diese Frage gegeben. Raw Bergman erwähnt einen erstaunlichen Gedanken: Tefilla übertrifft Bechira. Gebete übertreffen das Prinzip der freien Wahl. Die Macht des Gebets ist so stark, dass trotz der Tatsache, dass die Welt meist gemäss dem Prinzip der Bechira Chofschit funktioniert, die Tefilla solch eine Macht hat, dass sie sogar das Prinzip der freien Wahl erschüttert.
Mit dieser Ansicht erklärt Raw Bergman eine berühmte Gemara [Talmud Traktat Moed Katan 18b]:
Der Talmud [ibid. 8b] bringt zuerst die Mischna, dass man an Feiertagen oder am Chol Hamoed (Halbfeiertag) nicht heiraten darf. Der Talmud erklärt darauf den Grund, weil: „Ejn me’arwin Simcha beSimcha – zwei Semachot (Freuden) dürfen nicht vermengt werden!“ Man darf nicht die Freude des Feiertages mit der Freude einer Chatuna (Heirat) mixen.
Jedoch sagt der Talmud [ibid. 18b]: Man darf sich am Chol Hamoed (Halbfeiertag) verloben, "aus Furcht, dass jemand anders sich zuerst mit ihr verloben könnte". Der Talmud stellt daraufhin diese Angst aufgrund des bekannten Prinzips des "bescherten" (zu Deutsch: alles ist bestimmt) in Frage: Der Talmud lehrt, dass vierzig Tage vor der Bildung eines Embryos eine Himmlische Stimme verkündet 'die Tochter von diesem Mann wird jenen Mann heiraten". In anderen Worten ist es vorbestimmt, wen ein Mensch heiraten wird. Wie ist es also möglich, dass, wenn ich dazu bestimmt bin, ein bestimmtes Mädchen zu heiraten, jemand anders mir zuvorkommen kann und sich mit ihr verloben wird? Der Talmud antwortet "für den Fall, dass jemand anders sich durch Rachamim, Erbarmen, mit ihr verlobt'. In anderen Worten: Die andere Person wird dawenen, und seine Gebete werden erhört werden und im Himmel wird der alte himmlischen Entscheid, dass dieses Mädchen für jemand anders bestimmt war, aufgehoben werden!
Etwas ähnliches finden wir im Schulchan Aruch, Hilchot Tisch’a beAw [551:2]: Obwohl man keine Frauen heiraten darf (in den Trauertagen), weil fröhliches Feiern eingeschränkt werden muss, dennoch ist es erlaubt sich zu verloben und sogar am Tisch’a beAw selbst (ohne Essen natürlich). Der Grund: "Aus Furcht, dass jemand anders sich zuerst mit ihr verloben könnte".
Dies ist derselbe Gedanke, der oben ausgedrückt wurde. Die Macht des Gebets kann gegen einen Zaddik - in Form eines Mosche Rabbejnu! - arbeiten. Die Macht des Gebets kann etwas übermannen, das seit den sechs Tagen der Schöpfung vorprogrammiert war! Die Macht des Gebets kann gegen die Bechira Chofschit (freie Wahl) vorgehen! Die Macht des Gebets kann gegen etwas "Beschertes (von Himmel bestimmtes)" entgegenwirken. So stark ist die Macht des aufrichtigen Gebets!
Quellen und Persönlichkeiten:
„Maharscha“: Akronym von Rabbi Schmuel Elieser Halevi Edels (1555-1631). Seine Mutter war eine Cousine des berühmten Maharal von Prag. Bedeutender Talmudkommentator. Seine Talmudkommentare gehören zu den Klassikern der talmudischen Literatur, geniessen grosses Ansehen und sind in fast allen Talmudausgaben enthalten. Rabbiner in Chelm (bei Lublin), dann in Lublin (Polen) und schlussendlich in Ostraha (Ostrog, Polen heute Ukraine), wo er eine grosse Jeschiwa gründete.
Der „Alte von Kelm“, Rabbi Simcha Sissel Siw (1824 – 1898); Rosch Jeschiwa in Kelm, einer der Hauptschüler von Rabbi Jisrael Salanter, dem Gründer der Mussarbewegung (Schulung des Charakters).
Rav Meir Zwi Bergman: (geb. 1930) Rosch Jeschiwat Raschbi, Benej Berak, Israel. Schwiegersohn von Rav El’asar Menachem Man Schach s.Z.l. Verfasser der Werke: „Scha’arej Orah“ zum Chumasch und Rambam.
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