Mosche manifestiert die Prioritäten eines Führers in Israel (Rav Frand, Pinchas 5783)
Rav Frand zu Paraschat Pinchas 5783
Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Mosche manifestiert die Prioritäten eines Führers in Israel
In dieser Parascha steht geschrieben: Haschem sagte zu Mosche: "Besteige den Berg Awarim, und siehe das Land an, das ich den Benej Jisrael gegeben habe. Wenn du es gesehen hast, so wirst auch du zu deinem Volk eingehen, so wie dein Bruder Aharon zu ihm eingegangen ist. Weil ihr in der Wüste Zin meinen Befehl nicht gehorcht habt, als ihr vor den Augen der hadernden Gemeinde mich durch das Wasser heiligen solltet – dies sind die Haderwasser von Kadesch in der Wüste Zin" [Bamidbar 27:12-14].
Mosche Rabbejnu muss nun mit einer Realität zurechtkommen, die für ihn äusserst schmerzhaft ist. Haschem sagte zu Mosche, dass er Erez Jisrael nicht betreten werde. Diese Botschaft wurde Mosche schon in Paraschat Chukat übergeben, aber erst jetzt sank die Realität und Endgültigkeit der Botschaft für ihn wirklich ein.
Nachdem Mosche diese Nachricht hörte, reagierte er mit der Bitte an den Allmächtigen, einen würdigen Nachfolger zu ernennen, der das Volk führen würde: "Möge Haschem, der G"tt des Geistes in jedem Leibe, einen Mann über die Gemeinde einsetzen, der vor ihnen aus- und eingeht, der sie aus- und einführt, damit die Gemeinde des Ewigen nicht wie eine Herde sei, die keinen Hirten hat" [Bamidbar 27:16-17].
Raschi kommentiert zu diesem Dialog: "Dies demonstriert das Lob der Zaddikim (Gerechten/Frommen). Wenn ihre Zeit gekommen ist, die Welt zu verlassen, verzichten sie auf ihre eigenen Bedürfnisse und beschäftigen sich mit den Bedürfnissen der Gemeinde." Anstatt seinem ersten Instinkt zu folgen und den Allmächtigen anzuflehen, den Erlass aufzuheben und ihn nach Erez Jisrael einreisen zu lassen (wie Mosche es in der Tat tat, wie wir zu Beginn von Paraschat Wa’etchanan lesen), verzichtet Mosche auf seinen persönlichen Wunsch und stattdessen ist seine erste Reaktion, für einen würdigen Nachfolger zu beten.
Dies ist das vorbildliche Verhalten eines wahren Führers Israels. David Hamelech drückt dies im Sefer Tehillim in einem sehr interessanten und mysteriösen Passuk aus: "KeAjal ta’arog al Afikej Majim, kejn Nafschi ta’arog ejlecha Elokim" [Tehillim/Psalm 42:2]. Die einfache Übersetzung dieses Passuks ist "Wie der Ajal (eine Art von Hirsch, Antilope oder Gazelle) bei der Wasserströmung aufschreit, schreit auch meine Seele zu Dir auf, Allmächtiger." Der Jalkut Schimoni zur Stelle [741] weist auf eine grammatische Anomalie in diesem Passuk hin; Ajal ist die männliche Form des Tieres (Ajelet wäre die weibliche Form), und doch ist das Verb im Passuk in der dritten weiblichen Form ‘ta’arog’ anstatt der männlichen Form ‘ja’arog’. Deshalb frägt der Midrasch, wer das Subjekt dieses Passuks ist – das männliche oder das weibliche Tier?
Der Midrasch erklärt: Wenn die Ajelet (weibliche Hirsch, Antilope oder Gazelle) vor der Geburt steht (sozusagen auf dem ‘Gebärstuhl’ sitzt), kauert sie hin und schreit zum Allmächtigen wegen ihren qualvollen Schmerzen auf. Und G-tt erhört sie und sendet ihr eine Schlange, die ihr in die Gebärmutter beisst und dadurch sie sich öffnet. Der Midrasch fährt fort: Was ist die Bedeutung des Ausdrucks "Afikej Majim" (die Strömungen von Wasser), und was hat das Aufschreien wegen Geburtsschmerzen mit "Afikej Majim" zu tun? Der Midrasch erklärt, dass die Ajelet das gutartigste Tier des Tierreichs ist (haChassida schebeChajot). Wenn die anderen Tiere schrecklich durstig sind, versammeln sie sich um die Ajelet, darauf gräbt sie mit ihrem Geweih in die Erde und schreit zum lieben G-tt auf, um für sie Untergrundwasser hervorbringen zu lassen. G-tt erhört ihre Stimme, reisst den Untergrund auf und Wasser sprudelt hervor. Sogar wenn sie mitten in einer Geburt ist und qualvolle Schmerzen erleidet, sorgt sie sich doch um die Bedürfnisse der anderen Tiere und fleht den Allmächtigen an, ihnen eine Untergrundquelle hervorsprudeln zu lassen. Der Allmächtige hört auf ihre Gebete, öffnet die Untergrundquellen und das Wasser kommt hoch, und liefert Wasser für alle Tiere als Antwort auf die Gebete der Gazelle.
Laut dem Midrasch haben wir also zwei unabhängige Vorfälle bezüglich derselben Ajelet. Der Passuk beginnt mit der Geschichte der Ajelet, die Geburtsschmerzen erleidet und zu Haschem aufschreit. Das Ende des Passuks spricht über diese Ajelet, die zu Haschem aufschreit, um die Bedürfnisse der anderen Tiere für Wasser zu decken. Dies ist ein sehr seltsamer Midrasch, der uns bestimmt etwas wichtiges lehren möchte!
Ich hörte einst eine fantastische Erklärung von Rav Ja’akov Galinsky, dem bekannten Maggid. Er erwähnte, dass normalerweise, wenn Menschen von Schmerzen geplagt sind, sie nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Wenn Menschen Zores haben (leiden), können sie nur an sich selbst und ihre Probleme denken. Ein Mensch, der von persönlichen Leiden geplagt ist und sich trotzdem über seine Probleme erheben kann und an den Schmerz eines anderen Menschen denken kann, ist eine ungewöhnliche Person.
Der Midrasch kommentiert, dass diese Ajelet schreckliche Geburtsschmerzen erleidet. Sie hat ihre eigenen Probleme, und dann, während sie leidet, kommen andere Tiere zu ihr und sagen: "Tue etwas für uns." Sie bitten sie, für sie zu beten, dass Haschem ihnen Wasser beschere. Ihre Reaktion wäre üblicherweise: "Ich habe genügend eigene Probleme. Seht ihr denn nicht, dass ich inmitten einer Geburt bin? Lasst mich in Ruhe! Ich kann euch nicht helfen!" Der Midrasch sagt uns jedoch, dass sie umgekehrt reagiert. Sie wendet sich von ihren eigenen Problemen ab und betet für die anderen Tiere.
Dies, sagt der Midrasch, ist der Grund dafür, dass die männliche Form Ajal für "KeAjal ta’arog" verwendet wird. In diesem Moment macht sie sich zu einem männlichen Wesen – sie vergisst ihre Geburtsschmerzen. Sie vergisst ihre eigenen Zores und betet für die anderen Tiere, damit sie ihren Durst löschen können. Darauf folgert David Hamelech und sagt: "… kejn Nafschi ta’arog ejlecha, Elokim" [ibid.]: "… so möge auch meine Seele zu Dir ta’arog (flehen), oh G"tt."
David Hamelech hatte ein elendes Leben, ein Leben von Schmerzen und Zores. Er hatte Probleme mit König Scha’ul. Er hatte viele Feinde. Er musste Kriege führen. Er hatte Rebellionen und Peinlichkeiten in seiner eigenen Familie. David Hamelech erlitt alle möglichen Prüfungen und Widerwärtigkeiten, die ein Mensch erleben kann. Und doch sagte er "so soll meine Seele sich nach Dir sehnen, oh G"tt". Er legte seine persönlichen Angelegenheiten beiseite und diente als König von Klall Jisrael. Er interessierte sich für die Bedürfnisse und Probleme von jedem einzelnen und handelte, wie wenn er überhaupt keine persönlichen Probleme hätte.
Dies ist die gleiche Art von Mensch wie Mosche Rabbejnu, der, als er die Worte "du wirst nicht nach Erez Jisrael kommen" hörte, nicht sofort darum bat, den Erlass aufzuheben, sondern sich zuallererst um das Volk kümmerte – dass sie einen würdigen Nachfolger und Führer erhalten würden. Diese Fähigkeit, die persönlichen Bedürfnisse zugunsten der Bedürfnisse der Allgemeinheit beiseitezulegen, ist das Zeichen eines echten jüdischen Führers. Dies war das Kennzeichen von Mosche Rabbejnu. Dies war das Kennzeichen von David Hamelech. Man kann dies nur erreichen, indem man ständig an sich arbeitet und versucht, sich über schmerzende und vor allem belanglose Dinge zu erheben.
Die Art von Führer, die Mosche Rabbejnu für das jüdische Volk erbat, war: "Möge Haschem, der G"tt des Geistes (der Seelen) in jedem Leibe, einen Mann über die Gemeinde einsetzen, der vor ihnen aus- und eingeht, der sie aus- und einführt…"
[Raschi erklärt zur Stelle: ‘Der G-tt der Seelen’, Was bedeuten diese Worte? Er sprach von Ihm, Herr der Welt, vor dir ist der Sinn eines jeden von ihnen offenbar, dass nicht einer dem andere gleich ist; setze einen Führer über sie, der einen jeden von ihnen nach seinem Sinn erträgt (Tanchuma.). ‘Der vor ihnen ausziehe…’, nicht wie die Art der Könige der Völker, die in ihrem Hause bleiben und ihre Heere in den Krieg schicken; sondern wie ich es getan hatte, dass ich selbst mit Sichon und Og Krieg führte…, und so wie es auch schlussendlich Jehoschua tat, wie es heisst…, ebenso steht bei David [Samuel 18, 16], weil er vor ihnen auszog und heimkehrte… ‘Der an der Spitze auszieht und an der Spitze heimkehrt. Der sie hinausführe durch seine Verdienste, und der sie heimbringe durch seine Verdienste (Sifre)].
Mosche sprach er sollte ein Mensch sein, der ihnen vorausgeht, einer, der sie herausbringen und hineinbringen würde. Wie die Kommentatoren aufzeigen, wünschte Mosche sich einen Mann, der mit allen Sorten von Menschen umgehen kann. "Ein Mann, der 'Ruach' in sich hat." Dies ist ein Mensch, der die Fähigkeit hat, mit verschiedenen Charakteren und Arten von Menschen zu handeln. Dies wird von einem jüdischen Führer erfordert.
Darauf sprach der Ewige zu Mosche: ‘Nimm dir Jehoschua, den Sohn Nuns, einen Mann, in dem der Geist ist, und lege deine Hände auf ihn [Bamidbar 27:18]. Er solle Jehoschua nehmen und ihm einen Teil seines eigenen "Geistes" geben. Mosche legte seine Hände auf den Kopf von Jehoschua und er erhielt damit den Geist von Mosche und wurde fähig, der Führer zu werden.
Raw Simcha Sissel fragt: Wenn Mosche sowieso seine Hände auf den Kopf des Nachfolgers legt um ihm einen Teil seines Geistes weiterzugeben, warum war es denn überhaupt nötig, einen Menschen mit ‘Ruach’ zu fordern? Es könnte doch sein, dass jedermann dieses Ziel erfüllen könne. Er würde diese Eigenschaft des "Ruach" von Haschem (durch Mosche) erhalten und könnte dann ein Führer werden.
Raw Simcha Sissel antwortet, dass Haschem einem Menschen Weisheit und Wissen als Geschenk erteilen kann. Diese Weisheit kann einen Menschen raffiniert, zu einem guten Organisator und einen ausgezeichneten militärischen Strategen machen. Es gibt jedoch eine Sache, die Haschem in der Regel nicht als ein Geschenk einer Person gibt. Dies sind "Middot Towot" – gute Charaktereigenschaften. Dies ist etwas, das ein Mensch selbst erarbeiten muss. Obwohl also der G"ttliche Ruach (Geist) von Mosche an einer weiteren Person übergeben wird, muss der Empfänger, bevor dies geschehen kann, ein Mensch sein, der einen gewissen eigenen "Ruach" in sich hat. Er muss ein Mensch mit ausgezeichneten Eigenschaften sein, der mit dem Volk würde umgehen können. Der Führer Israels muss solch ein spezieller Mensch sein, der sich über sein eigenes persönliches Paket von Sorgen hinausheben und sich auf die Bedürfnisse der Gemeinde, des Zibbur konzentrieren kann.
Quellen und Persönlichkeiten:
Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
Jalkut Schim’oni ist eine Midraschim-Sammlung. Der Verfasser ist vermutlich Rabbi Schim’on Kara, genannt Rabbi Schim'on haDarschan. Französischer Rabbiner (12. Jahrhundert) Nach anderen Quellen aus Frankfurt a/M stammend (11. Jahrhundert); vermutlich doch erst aus dem 13. Jahrhundert. Dieses Werk ist deshalb besonders wertvoll, weil er diverse Quellen benutzt, die ansonsten teilweise oder ganz als verloren gelten, wie Sifrej Suta, Midrasch Jelamdenu, Midrasch Awkir, etc.
Rav Simcha Sissel Siw (1824-1898), Einer der ersten Ba‘alej Mussar (Meister der moralischen Lehren/Schulung des Charakters), auch bekannt als „der Alte von Kelm“. Die Mussar-Bewegung entstand im 19. Jahrhundert in Litauen als Reaktion auf einen befürchteten Zerfall der jüdischen Kultur durch Assimilierung und Haskala. Als ihr Begründer gilt Rabbi Jisrael Salanter. Rav Simcha Sissel war einer seiner Hauptschüler.
Rav Ja’akow Galinsky (1920-2014). Krynki, Polen. Rosch Jeshivas Chadera, Israel. Eine überragende Persönlichkeit und weltbekannter Maggid, der das Publikum ‘dauernd in Atem hielt‘.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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