Die Kraft unseres Mundes - (Rav Ciner Matot 5781)
Die Kraft unseres Mundes
Diese Woche lesen wir die Doppel-Paraschot Matot-Mass’ej und schliessen damit das Sefer Bamidbar.
Matot beginnt mit dem Thema der Gelübde und Schwüre. "Wenn ein Mensch dem Ewigen ein Gelübde macht oder einen Eid schwört, um sich selbst etwas zu verbieten, so darf er sein Wort nicht brechen; ganz so, wie es über seine Lippen gekommen, soll er es tun [Bamidbar 30:3]. Es gibt verschiedene Arten von Schwüren. Man kann einen eigenen Gegenstand heiligen, indem man ihn als ‘Hekdesch’ (‘Heilig’, zur Verwendung im Tempel) bezeichnet. Diese Äusserung verwandelt den Zustand des Gegenstands, der bis jetzt für profane Verwendungen verfügbar war, in einen Zustand der Heiligkeit. Verwendet man ihn danach verbotenerweise für irgendeinen persönlichen Nutzen, muss ein Me’ilah-Opfer als Sühne dargebracht werden. Eine andere Art von Schwur kann den Status von Gegenständen – sogar, wenn sie nicht dem Menschen gehören, der den Schwur ausspricht – in Bezug auf ihn verändern. Man kann verkünden: "Alle Äpfel sind für mich wie ein Opfer verboten." Wenn er nach dieser Verkündung Nutzen von einem Apfel zieht, hat er gegen die oben erwähnte Verfügung - "Er darf sein Wort nicht brechen" - verstossen und muss die Folgen der Verletzung dieses Gebots tragen.
Die Tora hat uns die Kraft gegeben etwas Weltliches in etwas Heiliges und etwas Erlaubtes in etwas Verbotenes zu verwandeln. Die Kraft, die unsere Münder haben, ist in Wirklichkeit beängstigend. Lasst uns versuchen, die Kraft zu verstehen. In der Mischna [Awot 1:17] sagt Schim’on, der Sohn von Rabban Gamliel: "Alle meine Tage wuchs ich heran unter Weisen und fand nie Besseres für den Menschen als Schweigen." Dazu schreibt Rabbejnu Jona, dass die Chachamim haKedoschim (die heiligen Weisen) sich wie ein ‘Keli Scharet’ (heiliges Gerät des Tempels, das zum G"ttlichen Dienst verwendet wird und zu nichts Weltlichem benutzt werden durfte) machten und daher sich nicht mit weltlichen Dingen beschäftigen und den Mund nur zu Worten der Tora benutzten.
Der Netiwot Schalom erklärt dieses Konzept ausführlicher. Der Mensch wurde geschaffen, um Haschem zu anerkennen und diese Anerkennung auszudrücken. Dies wird vorwiegend durch unsere Münder getan. Als solche werden unsere Münder zum Keli Scharet, mit dem wir diesen G"ttlichen Dienst ausüben. Genauso wie wir finden, dass die Bestandteile eines Mehlopfers, sobald sie in ein Keli Scharet gelegt werden, sie eine Verwandlung durchmachen und geheiligt werden, so haben auch weltliche Gegenstände, wenn sie mit dem Keli Scharet - das als unser Mund bekannt ist - in Kontakt kommen, die Fähigkeit, sich zu verwandeln und heilig zu werden.
Unsere Münder haben eine tiefe Auswirkung auf andere. Wir haben die Begabung, die Macht, die uns gegeben wurde, auf konstruktive Art zu lenken und unsere Münder und diejenigen, die von ihnen berührt werden, zu stärken und zu heiligen. Und wie bei allen Kräften in dieser Welt wird das Potential dieser Kräfte für Gutes vom Potential dieser Kräfte für Schlechtes begleitet. Wir können mit dieser Kraft andere aufbauen aber auch herabmachen. Wir können ihnen das Gefühl geben oder auch wegnehmen, dass sie im Ebenbild des Ewigen geschaffen wurden. Wir können damit Weltliches in Heiliges oder auch umgekehrt Heiliges in Weltliches verwandeln.
Zuweilen können unsere Münder - ohne unser Wissen - das heilige Gerät werden, durch das der Allmächtige lebenswichtige Botschaften fürs Leben anderer Leute übermittelt.
Es wird eine lehrreiche Geschichte über den Ba’al Schem Tow erzählt. Als der Ba’al Schem Tow sich vorbereitete, diese Welt zu verlassen, rief er seine nahen Anhänger zu sich und enthüllte jedem die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. Ein Schüler namens Raw Chajim erhielt den Auftrag, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, indem er von Stadt zu Stadt reisen und Geschichten über den Ba’al Schem Tow erzählen solle.
Etwas überrascht, fragte er ängstlich, wie lange er denn herumreisen und Geschichten erzählen müsse. "Du wirst ein Zeichen vom Himmel erhalten, wodurch du wissen wirst, dass die Zeit gekommen ist, dass du aufhören kannst", antwortete der Ba’al Schem Tow.
Und so war es. Nachdem der Ba’al Schem Tow die Welt verlassen hatte, packte Raw Chajim seine Koffer und begann zu reisen und verbreitete überall Lebensweisheiten und Geschichten seines Rebben. Eines Tages hörte Raw Chajim von einem reichen Mann namens Re’uwen, der bereit sei, für jede Geschichte über den Ba’al Schem Tow grosszügig zu bezahlen. Raw Chajim reiste dorthin und besuchte den reichen Mann und sagte ihm, dass er viele Geschichten über den Ba’al Schem Tow kenne, die er ihm gerne erzählen würde. Voller Vorfreude lud Re’uwen viele Gäste zu einem wunderschönen, inspirierenden Schabbat mit eindrücklichen Geschichten über den Ba’al Schem Tow ein.
Nach einer üppigen Mahlzeit wandten sich Re’uwen und all seine Gäste erwartungsvoll an Raw Chajim, um einige seiner Geschichten zu hören. Raw Chajim wollte gerade zu erzählen beginnen, als er zu seinem Entsetzen realisierte, dass er alles vergessen hatte. Er konnte sich an keine einzige Episode über seinen Rebben erinnern. Mit hochrotem Gesicht erklärte er dem Hausherrn und den Gästen, dass er von seiner Reise erschöpft sei und sicherte ihnen zu, dass er sie nach der Nachtruhe am nächsten Tag mit Geschichten erfreuen würde.
An der Schabbat-Mittagsmahlzeit jedoch geschah dasselbe. Raw Chajim war entsetzt; er konnte nicht verstehen oder glauben, was mit ihm geschehen war. Wiederum entschuldigte er sich und bat bei der Se’uda Schelischit nochmals eine Chance zu erhalten.
Die dritte Schabbat-Mahlzeit kam und auch als sie zu Ende war, konnte sich Raw Chajim noch immer nicht an irgendeine Geschichte erinnern. Nach Schabbat gingen die enttäuschen Gäste weg und Raw Chajim entschuldigte sich bei seinem entmutigten Gastgeber. Er hatte schon seine Kutsche bestiegen, um die Stadt zu verlassen, als er sich plötzlich blitzartig an eine Geschichte erinnerte. Erregt rannte er zu Re’uwen, um ihm zu sagen, dass er sich gerade an eine Geschichte erinnert habe.
Er erzählte: "Eines Tages begleitete ich den Ba’al Schem Tow in eine Stadt für Schabbat. Wir trafen am Donnerstag ein und waren überrascht zu sehen, dass der Markt der Stadt leer und verlassen war. Wir klopften an die erste Tür, die eine Mesusa hatte, und wurden heftig hineingezogen. "Wisst ihr nicht, welcher Tag heute ist? Wisst ihr nicht, dass heute der Gründonnerstag ist? Der antisemitische Priester stachelt seine Gemeindemitglieder an und schickt sie gegen uns, Pogrome zu verüben!"
"Mein Rebbe wandte sich an mich", fuhr Raw Chajim fort, "und sandte mich zum Priester, um ihn zu informieren, dass Rav Jisrael Ba’al Schem Tow ihn sehen wolle. Die Leute flehten ihn an, mich nicht in den sicheren Tod zu senden, aber er beharrte darauf, dass ich seinen Auftrag erfülle. Zitternd ging ich hinaus und ging durch die Strassen bis zum Versammlungsort der Stadt und wandte mich an den Priester, gerade als er eine feurige Rede vor einer grossen Menschenmenge hielt und gab ihm die Botschaft. Er schien erschrocken zu sein und sagte mir, ich solle dem Ba’al Schem Tow ausrichten, dass er nach seiner Rede kommen würde."
"Glücklich, dass ich am Leben geblieben bin, übergab ich seine Botschaft dem Ba’al Schem Tow. 'Gehe hin und sage ihm, dass er sofort zu mir kommen solle!', befahl mir der Baal Schem Tow und entsandte mich ein zweites Mal. Diesmal entschuldigte sich der Priester bei seiner Zuhörerschaft und versprach ihnen, dass er in ein paar Minuten zurückkehren würde. Dann begleitete er mich zum Ba’al Schem Tow."
"Die zwei verbrachten eine Weile zusammen in einem Zimmer. Meine Geschichte endet hier, weil ich nicht weiss, was sie besprachen oder was danach mit dem Priester geschah."
Re’uwen sagte ganz aufgewühlt zu Raw Chajim: "Und jetzt habe ich dir eine Geschichte zu erzählen. Erkennst du mich denn nicht?" Raw Chajim schaute ihm verwundert ins Gesicht und verneinte. "Ich bin jener Priester! Die Kirche entführte mich, als ich jung war, und es gelang ihnen, mich jegliche Erinnerungen an mein Leben als Jude vergessen zu lassen."
"Ich wurde älter und wurde ein Mitglied der Geistlichkeit und wurde schliesslich der Priester des gesamten Gebiets. Ich wurde jedoch von einem wiederkehrenden Traum gestört, in dem der Ba’al Schem Tow mir erschien und sagte, dass ich jüdisch bin, und mich aufforderte, zu meiner wahren Religion zurückzukehren. Ich ignorierte diese verrückten Träume und fuhr mit meiner 'heiligen' Arbeit fort. An jenem Gründonnerstag jedoch, als du mit der Botschaft des Ba’al Schem Tow an mich gelangt bist, hatte ich das Gefühl, dass ich einwilligen muss."
"Als der Ba’al Schem Tow mit mir sprach und mir sagte, wer ich wirklich sei und wo meine Verantwortung liege, beschloss ich, die Kirche zu verlassen und zu meiner Religion zurückzukehren. Ich fragte den Ba’al Schem Tow, wie ich wissen könnte, dass meine Teschuwa (Rückkehr) auf meine grosse Sünde vom lieben G-tt angenommen worden sei? Darauf antwortete mir der Ba’al Schem Tow , ich gebe dir ein Zeichen, wenn jemand kommen und dir diese Geschichte erzählen wird, dies ein Beweis sein würde, dass deine Teschuwa angenommen wurde."
"Dies ist der Grund, warum ich immer Geschichten über den Ba’al Schem Tow hören wollte. Als du kamst und dich an keine Geschichten erinnern konntest, war ich zerstört, weil dies eine Zeichen für mich war, dass meine Teschuwa noch nicht angenommen worden ist."
Einige auserwählte Menschen wie Raw Chajim hatten und haben das Verdienst, die Botschaften des Himmels auf dieser Erde zu überliefern. Jeder von uns hat die Gelegenheit, mit seinen Worten die Erde zum Himmel zu erheben.
Quellen und Persönlichkeiten
Rabbejnu Jona ben Abraham Gerondi (1200-1263); Girona, Barcelona und Toledo, Spanien. Rabbiner und Rosch Jeschiwa. War einer der bekannten Rischonim. Cousin des Ramban (Nachmanides). Bekannt durch seine Werke: „Scha’arej Teschuwa (Lehre über moralisches Verhalten)“, Erklärungen zu Pirkej Awot und Mischlej, wie Abhandlungen zum Talmud (grosser Teil ging verloren).
Rabbi Schalom Noach Brasovsky (1911-2010); Baranowitsch (Polen, heute Weissrussland), Tewerja und Jeruschalajim. Rosch Jeschiwa und Slonimer Rebbe. Verfasser der Werke Netiwot Schalom.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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