Ajeka - Wo bist du? (Rav Ciner, Dewarim 5782)
Rav Ciner zu Paraschat Dewarim und Tisch’a BeAw 5782
Ergänzungen: S. Weinmann
Ajeka - Wo bist du?
An diesem Schabbat, Tisch’a BeAw, dem neunten Tag des Monats Aw, beginnen wir das Sefer Dewarim zu lesen. Da am Schabbat nicht gefastet werden darf, wird deshalb der Fasttag auf Sonntag, den 10. Aw, verschoben. Es ist interessant, die Anspielungen auf Tisch’a BeAw in der dieswöchigen Parascha zu bemerken.
"Ejle haDewarim ascher diber Mosche el kol Jisrael - dies sind die Worte, die Mosche zu ganz Jisrael sprach" [1:1].
Mosche tadelte die Benej Jisrael, weil sie viele Male Haschem nicht treu gefolgt waren. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Sünde der Meraglim – der Spione. "Lasst uns Männer vorausschicken, um das Land auszuspionieren" [1:22], forderten die Kinder Israels von Mosche. Der abschätzige Bericht der Spione wurde akzeptiert, und "die ganze Gemeinde weinte in jener Nacht" [Bamidbar 14:1]. Rabbi Jochanan lehrte: "Jene Nacht war die Nacht von Tischa beAw. Haschem reagierte mit den Worten: "Sie weinten in jener Nacht eine 'Bechija schel Chinam' (ein grundloses Weinen); Ich werde deshalb diese Nacht als 'Bechia leDorot' (eine Zeit des Weinens für alle Generationen) festlegen." [Talmud Traktat Ta’anit 29a]
Raw Dessler schreibt, dass Weinen ein Mittel ist, um einen inneren Schmerz auszudrücken. Was war unsere Bechija schel Chinam (unser grundloses Weinen)? Er erklärt, dass es ein Weinen war, das einem Mangel an Glauben entsprang. Als die Kinder Israels an der Grenze unseres Heiligen Landes standen, weigerten sie sich, es zu betreten. "Warum will uns der Ewige in dieses Land bringen, damit wir durchs Schwert fallen und unsere Frauen und Kinder zur Beute werden? [Bamidbar 14:3]", machten sie vor Mosche geltend. "Aus Hass gegen uns hat uns der Ewige aus dem Lande Ägypten geführt, um uns in die Hand der Emoriter zu geben und uns zu vertilgen!" [Dewarim 1:27] Der Seforno erklärt diesen Ausspruch wie folgt: "Aus Hass gegen uns" - weil wir in Ägypten Götzen gedient haben, "um uns in die Hand der Emoriter zu geben" – obwohl der Ewige die Kraft hat, die Emoriter zu besiegen, wird er aus Rache gegen uns, uns in ihre Hand geben!
Erklärt Rav Dessler, dass eigentlich dieses Weinen eine gewisse Erkenntnis ihrer Sünden und ein Aufschrei der Teschuwa (Reue) war. Jedoch vermengte sich in diesen Aussprüchen ein Mangel von Glauben und Vertrauen in die Kraft des Allmächtigen.
Diese Bechija schel Chinam, die einen Verfall in unserer inneren Beziehung zu Haschem enthüllte, musste durch die Festlegung einer Bechija leDorot (ein Weinen für alle Generationen) korrigiert werden.
Als Mosche den Auftrag erhielt, das Mischkan (Heiligtum) zu erstellen, sagte Haschem nicht, dass Er darin verweilen würde, sondern, dass Er in unserer Mitte verweilen würde "Weschachanti betocham" [Schemot 25:8]. Unabhängig davon, was ein Mensch tut, wird dieser Nizoz Hakeduscha (der Funke der reinen G"ttlichkeit) in ihm nie erlöschen. Unsere Taten und unsere Versäumnisse können jedoch eine "Mauer" um diesen Funken bilden, was verursacht, dass der Funke uns nicht mit seinem Glanz erleuchten kann. Das führt dazu, dass wir uns von Haschem und von allen Spuren der Spiritualität lösen und uns an den Rand des geistigen Todes bringen. Dies ist der Zustand eines persönlichen Churban (Zerstörung).
Wenn die Nation gesamtheitlich diesen Funken durch eine spirituelle Ignoranz und eine übermässige Involvierung in Materialismus und Schwelgerei wegstösst und sich von ihrer Beziehung zum Allmächtigen entfernt, geraten wir in einen Zustand eines kollektiven Churbans. Dies offenbart sich in der Zerstörung von Jeruschalajim und der Zerstörung des Bejt Hamikdasch (des Tempels).
Diese sichtbare und offensichtliche Zerstörung hat das Ziel, uns unsere versteckte innere persönliche Zerstörung zu enthüllen: Die Entfernung von unserer Verbindung und Beziehung zu unserem Schöpfer. Die Entfernung von der Beziehung, für die wir geschaffen wurden. Diese Entfernung sollte uns zu Tränen rühren. Nicht eine Bechija schel Chinam (ungerechtfertigtes Weinen), sondern eine Bechija schel Emet (ein ehrliches und aufrichtiges Weinen).
Die Liste der nationalen Tragödien, die am Tisch’a beAw geschahen, ist lang. Die Zerstörung des ersten Bejt Hamikdasch, die Zerstörung des zweiten Bejt Hamikdasch, die Zerstörung der Stadt Bejtar, die Vertreibung der Juden aus Spanien und der Beginn des Ersten Weltkriegs sind alle Teil dieser Bechija leDorot (Weinen in allen Generationen). Das "Zusammentreffen" dieser Ereignisse, die am Tisch’a beAw geschahen, sollen uns lehren, dass nur die Hand des Schöpfers diese nationalen Ereignisse lenkt.
"Ejcha…" (Wie…): Mosche sagte: "Ejcha essa lewadi (wie kann ich allein (die Schwierigkeiten dieser Nation) tragen [Dewarim1:12]. Jirmijahu trauerte: "Ejcha jaschwa badad (wie geschah dies, dass sie (Jeruschalajim) so einsam ist)" [Rolle Ejcha 1:1].
Ejcha und Ajeka
Die Buchstaben von "Ejcha" sind Alef, Jud, Chaf, Hej. Diese vier Buchstaben bilden aber auch ein anderes Wort in Bereschit. Nachdem Adam Harischon vom Ejz Hada’at (Baum der Erkenntnis) gegessen hatte, versteckte er sich im Gan (Garten) Eden. Haschem kam und rief ihm zu [Bereschit 3:9]: "Ajeka" (wo bist du?) wiederum Alef, Jud, Kaf, Hej.
Wenn wir uns fragen: Ajeka? Wo sind wir? Was machen wir mit unserem Leben? Verbinden wir uns mit Haschem, oder distanzieren wir uns von Ihm? Gehen wir den richtigen Weg, oder nicht? Schüren wir den ewigen Funken in uns oder löschen wir ihn? Wenn wir uns diese Fragen selbst stellen, benötigen wir nicht den Zustand von Ejcha (Klagen). Wenn wir es nötig haben, dass Haschem uns frägt: 'Ajeka' (wo seid ihr), dann benötigen wir leider Ejcha – eine Bechija leDorot (Weinen in allen Generationen).
Dies ist das Ziel dieser Bechija leDorot. Wie bei allen Ereignissen, die wir als "Bestrafung" betrachten, ist es das Ziel, einen Menschen dazu zu veranlassen, seinen persönlichen Zustand der Zerstörung einzuschätzen und zu beklagen. Nur dies kann zur letztendlichen Erlösung führen.
Gastgeber Schabbat
Ein gewisser Anhänger von Raw Simcha Bunim von Pesisch’cha was ein sehr verbitterter und kritischer Mensch. Er hatte eine Reise unternommen, um den Schabbat bei seinem Rebbe zu verbringen, traf dort jedoch erst nach Schabbat ein. Er erklärte seinem Rebben, dass er auf dem Weg so viele unerwartete Verzögerungen gegeben habe, dass er schliesslich den Schabbat an irgend einem anderen Ort verbringen musste.
Der Rebbe hörte sich seine Erzählung an und sagte ihm das folgende: "Der Schabbat ist ein sehr grosszügiger Gastgeber. Wenn Rosch Chodesch (der Neumondstag) auf Schabbat fällt, so gibt der Schabbat das Maftir-Lesen und das Mussafgebet dem Rosch Chodesch ab. Wenn die Jamim Towim (Festtage) auf Schabbat fallen, gibt er dem Gast das Schacharit- und Mussafgebet und zusätzlich auch das Toralesen ab. Wenn Jom Kippur auf Schabbat fällt und seine Vergebung anbietet, legt der Schabbat zu seinen Ehren - zusätzlich zu allem Obigen - sogar seine festlichen Mahlzeiten beiseite.
Wenn jedoch Tisch’a beAw mit seiner Traurigkeit auf den Schabbat fällt, nimmt der Schabbat eine andere Haltung ein. Der Schabbat sagt zu ihm: "Du bist kein willkommener Gast, warte und komme erst nach Schabbat!"
"Vielleicht" - fuhr der Rebbe fort - "ist die Tatsache, dass du es nicht hierher geschafft hast, eine Botschaft von Haschem an dich. Verdrossenheit ist nicht willkommen, bis die Freude des Schabbats vorbei ist. Ändere deinen Charakter, dann wird der Schabbat dich auch willkommen heissen!"
Möge die Trauer des diesjährigen Tisch’a beAws aufgeschoben werden, nicht nur um einen Tag bis Sonntag, sondern auf alle Ewigkeit, durch den inneren, spirituellen Wiederaufbau, den Maschiach Zidkejnu, bimehera beJamejnu (schnell, in unseren Tagen) uns bringen wird. Amen!
Gut Schabbes!
Yisroel Ciner
Quellen und Persönlichkeiten:
1. Seforno: Rav Ovadia ben Ja’akov Seforno (1470 – 1550); Rom und Bologna, Italien; klassischer Kommentator des Pentateuchs.
2. Rabbi Simcha Bunim ben Zwi Bonhart von Pesisch’cha (1765 - 1827). Przysucha (Polen). War ein chassidischer Zaddik in Polen.
3. Rav Elijahu Elieser Dessler (1892 - 1953) Homel (Russland), Kelm (Litauen), London, Gateshead (GB), Benej Berak, (Israel). War ein Rabbiner, Talmud-Gelehrter und jüdischer Philosoph. Er spielte eine bedeutende Rolle innerhalb der Mussar-Bewegung. Am Ende seines Lebens war er Maschgiach (geistiger Leiter) der Ponewischer Jeschiwa in Benej Berak. Verfasser des bekannten Werkes Michtaw meElijahu.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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