Raw Frand zu Parschat Ki Teze 5773
Liebevolle Strenge
Parschat Ki Teze beinhaltet eines der verwirrendsten Kapitel der Torah - die Gesetze über den missratenen und rebellischen Sohn (Ben Sorer u'Moreh). Es geht um ein männliches Kind im Alter von dreizehn bis dreizehneinhalb Jahren, das sich in gefährlicher Weise daneben benimmt: Der Junge bestiehlt seine Eltern und konsumiert übermässig viel Fleisch und Wein. Die Torah verlangt eine äusserst harte Bestrafung: Die Eltern müssen den Jugendlichen vor das Bejt Din (den religiösen Gerichtshof) bringen und dieser wird ihn (nach Verwarnungen, die nichts nützten) zum Tode durch Steinigung verurteilen - der härtesten Todesstrafe, die in der Torah vorgegeben ist.
Der Talmud im Traktat Sanhedrin (Sanhedrin ist das oberste jüdische Gericht) fragt, warum die Torah so hart mit dem Ben Sorer u'Moreh umgeht - für ein Benehmen, das sicherlich nicht die Todesstrafe rechtfertigt. Die Gemara (der Talmud) antwortet, dass die Torah erkennt, wo dieser Heranwachsende hinsteuert: Er wird letztendlich seinen luxuriösen Lebensstil finanziell nicht bestreiten können und deshalb seine Mitmenschen berauben; letzten Endes wird er in Streitigkeiten hineingeraten, infolge dessen er anderen Menschen das Leben nehmen wird. Es ist besser, wenn er hingerichtet wird, solange er noch relativ unschuldig ist, statt ihn zu Diebstahl, Raub und letztlich auch Mord gelangen zu lassen, wo er sich tatsächlich der Todesstrafe schuldig macht!
Die Gemara fügt hinzu - wenigstens gemäss einer Meinung - dass die Situation des Ben Sorer u'Moreh niemals wirklich eingetreten ist und eintreten konnte. Der Grund dafür ist, dass die rechtlichen Bedingungen, die für die Exekution eines solchen Jungen notwendig sind, dermassen präzise und unwahrscheinlich sind, dass es eigentlich unmöglich ist, dass sie jemals in Erfüllung gehen können. Die Gemara rechtfertigt die Tatsache, dass ein "unmögliches" Ereignis in der Torah und im Talmud dermassen ausführlich behandelt wird, mit dem Prinzip, "komm erläutere ihre Lehren und erhalte Lohn dafür" (drosch we'kabel Sachar).
Einerseits kann dies so verstanden werden, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Teil der Torah handelt, wir einen Lohn dafür erhalten werden, dass wir ihn lernen - unabhängig von der praktischen Anwendung dieser Gesetze. Dies geschieht auf die gleiche Weise, wie wir heutzutage die Gesetze des Tempeldienstes oder anderer Riten studieren, die wir nicht mehr imstande sind, auf praktischer Ebene umzusetzen.
Doch Rabbi Awraham Twerski erwähnt noch eine andere Facette des Ausdrucks "drosch we'kabel Sachar". Er ist der Ansicht, dass die Torah uns hier eine Lektion erteilt, die unbedingt dargelegt werden sollte und die uns durchaus praktische Erkenntnisse einbringt. Die Torah spricht hier von einem Konzept, dass vielleicht in den letzten 15 oder 20 Jahren in Mode gekommen ist, aber vorher völlig unbekannt war. Es ist das Konzept von "liebevoller Strenge" (engl. tough love), das die Torah schon vor Jahrtausenden eingeführt hat - lange bevor jegliche Psychologen oder Sozialarbeiter diesen Begriff geprägt haben. Rabbi Awraham Twerski ist selbst praktizierender Psychiater und ist auf das Gebiet der Suchttherapie spezialisiert. Er behandelt bspw. das Problem der Drogensucht, das leider auch in unserer Umgebung nicht selten vorkommt.
Als praktizierender Psychiater, der sich damit auseinandergesetzt hat, ist er der Meinung, dass der einzige Weg, einen süchtigen Menschen zu heilen, derjenige der "liebevollen Strenge" ist. In diesem Zusammenhang müssen sich bspw. Eltern, die ein solches Kind haben, manchmal geradezu unsensibel und sogar grausam gegenüber ihrem Kind verhalten. Die Eltern dürfen ihrem Kind nicht einfach weiterhin Geld geben, damit es seine Sucht stillen kann. Wenn es bedeutet, dass ihr Kind dafür von der Polizei festgenommen werden könnte, weil es von anderen Menschen Geld stiehlt - oder dass es, in letzter Konsequenz für seine Taten, im Gefängnis landen wird - dann soll es eben so sein. Um einen süchtigen Menschen effektiv und nachhaltig zu heilen, muss man sich dem Problem auch zwangsläufig kompromisslos gegenüberstellen. Wenn die Torah über den Ben Sorer u'moreh spricht, informiert sie uns über das Prinzip der "liebevollen Strenge".
Kein menschliches Wesen ist barmherziger als der Allbarmherzige. Wie kann also diese Torah der Barmherzigkeit, deren Wege diejenigen der Annehmlichkeit bzw. Freundlichkeit sind, den Eltern eines Kindes vorschreiben, es vor Gericht zu bringen und exekutieren zu lassen? Die Antwort ist, dass es die ultimative Barmherzigkeit ist - weil die Alternative noch viel schlimmer sein wird.
Wenn, G-tt behüte, ein Kind einen bösartigen Tumor an seinem Bein hat und die einzige Möglichkeit, ihm das Leben zu retten, darin besteht, das Bein zu amputieren, dann würden die Eltern, die das Kind zur Amputation ins Krankenhaus bringen, auch nicht als grausame, sondern als gütige Eltern angesehen werden. Genauso ist dies auch auf Eltern zu beziehen, die ihren Ben Sorer u'moreh vor Gericht bringen, um ihm seine vorgesehene Strafe (nach Verwarnungen, die nichts nützten) zuteilwerden zu lassen. Dies ist der einzige Weg - unter solchen Voraussetzungen - um ihm wenigstens seinen Anteil an der kommenden Welt (Olam Haba) zu retten. Das "drosch we'kabel Sachar" an diesem Kapitel ist, dass manchmal auch "liebevolle Strenge" zur Anwendung kommen muss.
Ich sage immer, man solle aufgrund der Ideen und Meinungen, die ich in meinem Unterricht äussere, keine Halacha paskenen (jüdische Religionsgesetze ableiten). Mit Sicherheit sollte niemand, im Kontext der Anwendung von "liebevoller Strenge" gegenüber Kindern, aufgrund einer einzigen Predigt eigenständig paskenen (richten). Doch das Konzept ist in gewissen Situationen der Kindeserziehung berechtigt - und es ist eine wesentliche Lektion, derer wir uns bewusst sein sollten, wenn wir die Gebote über den Ben Sorer u'Moreh analysieren: Manchmal ist das, was grausam erscheint, das grösste Seelenheil für ein Kind.
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