Rav Frand zu Paraschat Ki Teze 5779 - Beitrag 1
Die ungewöhnliche Schreibweise bei Schilu’ach ha’Ken verlangt unsere Aufmerksamkeit
Die dieswöchige Parascha behandelt die Mizwa (das Gebot) eine Vogelmutter wegzuschicken, bevor man ihre Küken oder Eier an sich nimmt ("Schiluach ha'Ken") [22:6-7]. Einer der Gründe für dieses Gebot ist gemäss den Erklärern, uns Mitgefühl zu lehren. Der Ramban legt Wert darauf, dass dieses Gebot nichts mit "Tierschutz" zu tun hat. Die Torah will uns vielmehr Anteilnahme am Schicksal des Mitmenschen lehren. Spüren wir bereits bei Tieren Erbarmen, so nehmen wir sicherlich Anteil am Schicksal des Mitmenschen. Das ist letztendlich der "Zweck" dieser Mizwa.
Der Passuk beginnt mit den Worten "Ki jikareh Kan Zipor" ("wenn es geschieht, dass du auf ein Vogelnest stösst"). Eigentlich müsste das Wort "jikareh" ("geschehen") mit dem Buchstaben "Heh" am Ende geschrieben werden (vom Wortstamm Kuf-Resch-Heh, der "geschehen" bedeutet). Das Wort wird jedoch nicht so geschrieben. Das Wort endet mit einem "Alef" - vom Wortstamm Kuf-Resch-Alef (mit der Bedeutung "ausrufen"). Zweifellos beschreibt der Passuk die Situation, in der ein Mensch ein Vogelnest findet. Genau übersetzt bedeutet der Passuk: "Wenn ein Vogelnest zu dir gerufen worden ist". Was soll das bedeuten? Wieso verwendet die Torah diese eigentümliche Schreibweise?
Das Sefer (Buch) Kol Dodi gibt für diese Schreibweise eine schöne Erklärung. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass jemand auf ein Vogelnest stösst. Dies ist ein aussergewöhnliches Ereignis. Ja, dieser Handlung wird sogar mystische Wirkung ("Segulot") zugeschrieben. Kinderlose sollen diese Mizwa erfüllen, um himmlischen Segen für Kinderglück zu erhalten. Eine solche Gelegenheit bietet sich nicht jeden Tag. Wer von uns hatte je die Möglichkeit, diese Mizwa zu erfüllen?
Auf einem schönen Spaziergang findet jemand plötzlich ein Vogelnest. Dies ist kein Zufall. Die Mizwa von Schiluach HaKen ruft ihm zu! Dieses aussergewöhnliche Ereignis ist möglicherweise ein g'ttlicher Wink für diesen Menschen, dass er als Einzelner an seinem Mitgefühl gegenüber seinem Nächsten arbeiten muss. Wenn es GESCHIEHT ("jikareh" mit einem "Heh"), dass gerade dieser Mensch und kein anderer, eine so aussergewöhnliche Situation erlebt, dann hat im Grunde "jikareh" mit einem "Alef" stattgefunden. Die Lehre der Mizwa vom Nest der Vogelmutter RUFT ihm zu, dass er aufpassen soll: Vielleicht muss er seine Fähigkeit mit anderen mitzufühlen verbessern.
Oft übersehen wir die an uns adressierten Botschaften. Sie sind zwar direkt an uns gerichtet, aber irgendwie verfehlen sie uns. Vor über achtzig Jahren wollte Reb Dovid Dryen in Gateshead, einer verschlafenen Bergwerksgemeinde bei Newcastle in England, einen Kolel (Lehrhaus) gründen. Er schrieb 23 Briefe an verschiedene Rabbiner in England und bat sie, bei der Gründung eines Kolels in Gateshead mitzuwirken. 20 Rabbiner, die mit diesen 23 Briefen angeschrieben worden waren, reagierten überhaupt nicht. Zwei schickten höflich einen Brief zurück mit der Antwort "Nein". Nur Einer sagte: "Das interessiert mich." Dieser Eine war Rav Elijahu Dessler. Rav Dessler traf sich mit Reb Dovid Dryen und so wurde entschieden, den Kolel in Gateshead zu gründen. Dieser entwickelte sich zum besten Platz für das Torahlernen in ganz Europa.
Rav Dessler wäre vielleicht ein unbedeutender Rav in einem kleinen "Stiebel" in Ost-London geblieben, hätte er den Brief nicht beantwortet und wäre daraufhin wohl nicht der "berühmte Rabbi Elijahu Dessler" geworden. Später wurde Rav Dessler der geistige Führer ("Maschgiach ruchani") der Poniwescher Jeschiwa in Benej Brak. Rav Dessler ist der Verfasser von "Michtav mi'Elijahu", eines der klassischen zeitgenössischen Werke. Die Frage stellt sich: Wäre er wohl der geistige Führer der Poniwescher Jeschiwa und Autor des "Michtav mi'Elijahu" geworden, wenn er wie die anderen 22 Rabbiner geantwortet hätte? Er vernahm jedoch die Botschaft. Er verstand die Botschaft und er antwortete.
Wieviele Chancen haben sich uns schon geboten und wir haben sie als ein zufälliges Ereignis abgetan? Wir fahren fort mit unserem täglichen Leben. G'tt sagt uns oft: "Das brauchst du jetzt. Hier, ich schicke dir eine Botschaft. Höre doch auf sie!"
Quellen und Persönlichkeiten:
- 1. Rav Eljahu Dessler (1891 - 1954): Eine der herausragendsten Persönlichkeiten der "Mussar-Bewegung" (moralische Erneuerung); London, Gateshead, Benej Berak (Israel). Verfasser von "Michtav mi'Elijahu".
- 2. Rabbi David Feinstein: Zeitgenössischer Rosch Jeschiwa in Jerusalem, Israel. Verfasser des Sefers Kol Dodi.
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