Vollständige Gelassenheit? Nein! Wir mühen uns alle ab – aber dies ist ein gutes Zeichen (Rav Frand Nizawim und Rosch Haschana 5782)
Rav Frand zu Paraschat Nizawim und Rosch Haschana 5782
Ergänzungen: S. Weinmann
Vollständige Gelassenheit? Nein! Wir mühen uns alle ab – aber dies ist ein gutes Zeichen
Mosche Rabbejnu sagt zu Klall Jisrael zu Beginn unserer Parascha: "Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem G"tt - Atem nizawim hajom kulchem lifnei Haschem Elokejchem."
Es gibt einen sehr bekannten Midrasch Aggada [Midrasch Tanchuma Nizawim 1], der von Raschi hier zitiert wird (Vers 12). Warum schliesst sich der Abschnitt "Nizawim" an die Verwünschungen von Paraschat Ki Tawo an? Weil, als die Kinder Israels 98 erschaudernde Verwünschungen, ausser den 49 am Ende von Sefer Wajikra, gehört hatten, erblassten ihre Gesichter und sie sagten: "Wer vermag dabei zu bestehen?" Darum fing Mosche Rabbejnu an, sie zu besänftigen und sprach: "Ihr steht heute alle da! D.h. ihr habt den Allmächtigen sehr oft erzürnt und dennoch hat Er euch nicht vernichtet." Es ist, wie wenn er sagen würde: "Ihr habt euch schon früher schlecht benommen, ihr werdet es wieder tun. Ihr werdet alles durchstehen! Sorgt euch nicht." Dies ist - gem. Raschi - der Zusammenhang zwischen Ki Tawo und "Atem nizawim".
Eine bekannte Frage wird diesbezüglich gestellt. Mosche scheint den ganzen Zweck seines Mussar- Schmusses (Moral-Predigt) zunichte zu machen. Er wühlt sie richtig auf. Sie zittern am ganzen Leib - "Was wird mit uns sein?". Und er sagt ihnen: "Beruhigt euch. Sorgt euch nicht darum." Dies kann man mit einem Maschgiach Ruchani (geistiger Aufseher) vergleichen, der in der Jeschiwa aufsteht und den Bachurim die Leviten liest. Die Bachurim zittern und befürchten, dass sie wegen ihrem Verhalten im Gehinom (Hölle) brennen werden. Und dann zwinkert der Maschgiach ihnen zu und sagt ihnen "Sorgt euch nicht!"
Was wollen also die Weisen mit ihrer Erklärung erreichen? Das Ziel der Tochecha war es doch, sie zu warnen und ihnen G"ttesfurcht einzuflössen! Ich sah im Sefer Abir Josef eine interessante Betrachtung von Raw Elja Ber Wachtfogel, dem Rosch Jeschiwa der Jeschiwa von South Fallsburg. Die Tossefta von Massechet (Traktat) Schabbat bemerkt, dass von allen Stadtbewohnern die Leute von Sedom die gelassensten waren. Sie hatten am meisten Menuchat Hanefesch. Die Tossefta sagt, dass dies Lot nach Sedom brachte. Er interessierte sich für alle Städte in der Gegend und er sah, dass die Leute von Sedom die unbekümmertsten waren.
Was bedeutet diese Tossefta? Warum waren die Leute in Sedom so gelassen? Raw Elja Ber Wachtfogel erklärt: Lot lebte mit Awraham Awinu. Bei Awraham Awinu sah er grosse Gelassenheit. Er sah einen Mann, der sich in Frieden mit sich selbst befand. Er war ruhig und zufrieden mit seinem Leben. Lot sagte sich: "Ich will diese Art von Leben. Ich will dieselbe Gelassenheit, die mein Onkel Awraham hat."
Wie war es Awraham Awinu gelungen, solch eine Gelassenheit zu erzielen? Wir alle haben diese andauernde Spannung zwischen unserem Guf (Körper) und unserer Neschama (Seele). Unser Körper will eine Sache, und unsere Neschama will etwas Anderes. Es ist ein Kampf vom ersten Tag an. Im Moment, da die Neschama in den Körper kommt, ist die Neschama nicht glücklich. "Ich will nicht in dieser Welt sein. Ich will mich nicht mit dem körperlichen und materiellen Wesen des Olam Hase (diese Welt) befassen." Der Körper hingegen sucht die physischen Vergnügungen des Lebens.
Dies ist der andauernde Kampf und die Spannung, die in jedem Menschen existiert. Aus diesem Grund sind wir in der Regel nicht ruhig, gelassen und zufrieden. An einem Tag sind wir so, und an einem anderen Tag sind wir anders. Oder eine Minute lang sind wir so und eine Minute später sind wir wieder anders. Wir mögen eine Art von Mensch sein, wenn wir uns in Schul befinden, und eine andere Art von Mensch, wenn wir bei der Arbeit sind.
Awraham Awinu löste das Problem. Er war 100% geistig (kulo Ruchnijut). Er widmete sein Leben zur Vervollkommnung seiner Neschama. Deshalb empfand er keine Spannung. Er hatte diese beneidenswerte Ruhe und Gelassenheit in seinem Lebensstil.
Ich hatte einst die Gelegenheit, zehn Minuten mit Raw Aharon Leib Steinmann sZl. zu verbringen. Falls Sie einmal in seiner kleinen Wohnung waren, wissen Sie, dass er auf einem rollenden Couch-Bett sass. Damit der Couch nicht davonrollte stellte man einen Stuhl dahinter, der als Stütze diente. Der Mann war so in Frieden mit sich selbst. Es sah so aus, wie wenn er keine Sorge in der Welt hätte. Er hatte Geduld für jeden. Ausser dem Zidkut (Frömmigkeit), das von ihm ausströmte, spürte man auch seine Gelassenheit. Dies war, weil er in grossem Masse dieses menschliche Dilemma löste, indem er ein sehr enthaltsames Leben führte.
Lot beneidete dies. Er sagte jedoch zu sich selbst: "Aber ich kann diese Art von Leben nicht führen." Lot wusste, dass er solch einen geistig-betonten Lebensstil nicht führen konnte. Er begehrte die körperlichen Genüsse. Deshalb war seine einzige Option ein anderer Weg, Gelassenheit zu erzielen – am anderen Ende des Spektrums. Die Leute von Sedom hatten auch keinen Konflikt. Sie hatten auch keine Spannung zwischen den Begierden ihres Körpers und denjenigen ihrer Neschama. Sie wiesen alles Geistige (Ruchnijut) zurück und lebten mit dem Motto "Iss, trink und sei vergnügt – denn morgen stirbst du".
Sie entschieden sich, die Bedürfnisse der Neschama gänzlich zu vergessen und sich nur auf ihre körperlichen Bedürfnisse und Begierden zu konzentrieren. Dies ist ein Weg, der zu einem Ort führt, den wir kennen – wir wissen alle, was mit Sedom und Amora (Sodom und Gomorra) geschah, aber er ist gelassen. Es besteht keine Spannung. Dies ist der Grund, warum Lot Sedom wählte – es war der gelassenste und zufriedenste Ort in der Welt.
Mosche Rabbejnu sprach zum jüdischen Volk und sagte ihnen: Ihr steht hier heute alle vor Haschem. Sorgt euch nicht!
Wir stellten die Frage, warum Mosche seinen ganzen Mussar-Schmuss zunichtemachte. Die Antwort ist, dass Mosche Rabbejnu ihnen in der Tochecha sagte: "Was in Sedom geschah, wird euch geschehen." [Dewarim 29:22] Es wird euch jedoch nur geschehen, wie es in Sedom geschah, wenn ihr, wie sie, das Ruchnijut gänzlich aufgibt. Solange ihr diese Spannung fühlt, solange ihr den Kampf führt, und der Kampf mit eurer Neschama euch beunruhigt, wird das, was mit Sedom geschah, euch nicht geschehen.
Mosche Rabbejnu sagte ihnen die 98 Flüche, und sie erblassten, aber er sagte ihnen, dass die Tatsache, dass sie erblassten, ein gutes Zeichen sei. "Es zeigt, dass ihr kämpft, dass ihr euch im Kampf befindet. Solange ihr den Kampf führt und versucht, das Ruchnijut zu wählen, obwohl ihr schon viele Male gegen den Allmächtigen gesündigt habt, wollt ihr doch das Richtige tun, und es stört euch, wenn es nicht richtig ist. Deshalb müsst ihr euch nicht sorgen – der Ribbono schel Olam (Herr der Welt) wird euch nicht wie Sedom vernichten. Sedoms Schicksal ist nur für diejenigen, die die Welt der Spiritualität gänzlich im Stich gelassen haben."
Dies sind sehr ermutigende Worte, wenn wir uns Rosch Haschana nähern. Wir alle haben Probleme, mit denen wir uns befassen müssen. Wir stehen nun vor dem grossen Tag des Gerichts. Es ist beängstigend, weil wir auf das vergangene Jahr zurückblicken und wissen, dass wir ziemlich versagt haben, wie es uns auch schon in der Vergangenheit passiert ist. Aber wir befinden uns immer noch im Kampf, und wir kämpfen weiter. Es stört uns immer noch. Ein Mensch muss sich nur sorgen, wenn es ihn nicht mehr stört. Nur, wenn ein Mensch die Gelassenheit von Sedom erreicht hat, ist es nötig, wirklich besorgt zu sein. Die reine Tatsache, dass unsere Gesichter blass werden und dass wir die Notwendigkeit und den Wunsch fühlen, uns zu verbessern, ist der grösste Beweis, dass wir uns noch im Kampf befinden. Mit diesem Verdienst des Erstrebens von Ruchnijut soll uns der Ribbono schel Olam zusammen mit dem ganzen Klall Jisrael und Erez Jisrael ein Jahr des Lebens und der Gesundheit, Parnassa und Frieden für Jisrael benschen.
Quellen und Persönlichkeiten:
1. Tosefta (in aramäisch „Hinzufügen“, „Ergänzen“), ist ein Sammelwerk mündlicher Überlieferungen aus der Zeit der Tanna’im (Mischna-Gelehrten). Sie stellt in vielen Fällen eine Ergänzung der Mischna, der Hauptsammlung, dar und entstand neben bzw. kurz nach dieser.
2. Abir Josef: Werk von Rav Ja’akow Josef Reinman, zeitgenössischer Rabbiner, Lakewood, N.J., USA
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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