Verzweiflung führt nicht zu Umkehr (Rav Frand, Wajelech - Schabbat Schuwa anfangs 5783)
Rav Frand zu Paraschat Wajelech – Schabbat Schuwa 5783
Verzweiflung führt nicht zu Umkehr
Die Parascha (der Wochenabschnitt) sagt uns [31:16-18], dass G'tt Mosche voraussagte, dass nach seinem Tod "diese Nation sich erheben wird und den fremden Göttern des Landes dienen wird ... und sie werden mich verlassen und meinen Bund brechen ... und Ich werde ihnen zürnen ... und ich werde sie verlassen und mein Angesicht von ihnen abwenden ... und viele Leiden werden sie treffen." Weiter wird vorausgesagt, dass das jüdische Volk an diesem Tag sagen wird: "Diese schrecklichen Ereignisse haben uns getroffen, weil G'tt nicht in unserer Mitte ist."
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese Reaktion des jüdischen Volkes eine perfekte Teschuwa-Antwort ist - Reue und Umkehr. Der Vers fährt jedoch fort: "Und ich werde Mein Angesicht an diesem Tag vor ihnen verbergen wegen all dem Schlechten, das sie getan haben, denn sie wendeten sich anderen Göttern zu."
Wieso verbirgt G'tt sein Angesicht weiterhin? Ist die zerknirschte Reaktion des jüdischen Volkes nicht die edle und richtige Antwort? Des Rätsels Lösung liegt im folgenden Psalm-Vers: "Bei Dir liegt die Kraft des Vergebens, damit Du gefürchtet wirst." [Tehilim/Psalm 130:4]
In der Logik dieses Passuks (Vers) haben wir ein Problem. Demzufolge müsste man denken, dass wir G'tt weniger fürchten müssen, weil er uns vergeben kann. Ein G’tt, der nicht vergibt, sollte eigentlich mehr Furcht einflössen,
Rav Dessler szl. sagt, dass Verzweifelte weder Hoffnung noch Furcht kennen. Soldaten vor der Schlacht haben Angst; sie wissen nicht, was sie auf dem Schlachtfeld erwartet. Aber mitten im Gefecht kennen Soldaten keine Furcht. In diesem Moment ist die Lage verzweifelt und hoffnungslos; dagegen kann man nichts tun. Furcht gibt es nur dort, wo eine Fluchtmöglichkeit besteht und man einer Situation ausweichen kann, aber nicht, wenn es keinen Ausweg mehr gibt.
Wenn G'tt nicht vergeben würde, wenn man nicht auf Teschuwa (Umkehr) zurückgreifen könnte, bestände in den zehn Busstagen (zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur) kein Grund, sich zu fürchten. Man kann ja nichts machen! "Ich habe gesündigt, die Strafe ist mir sicher. Dagegen kann ich ja sowieso nichts machen." Aber "bei Dir liegt die Kraft des Vergebens..." und deshalb: "falls ich richtig auf Dich zugehe, wird mir vergeben - deshalb wirst Du gefürchtet".
Der Sefat Emet sagt, dass die Verse unserer Parascha genau dies bedeuten. Teschuwa ist nicht, Schwierigkeiten zu haben und dann zu sagen: "Weil G'tt nicht in unserer Mitte ist, haben uns diese Schwierigkeiten getroffen ..." Das ist keine Umkehr! Das ist Verzweiflung ("Je'usch"). Wenn ein Mensch sagt: "Ich bin wertlos und verdorben", so ist dies nicht Umkehr, sondern das Gegenteil von Teschuwa: Verzweiflung. Die Sünde, die zu einer weiteren negativen Reaktion G`ttes führt, ist das Gefühl, wertlos zu sein, ohne geistige Fähigkeiten und religiöses Gefühl ("G'tt ist nicht in meiner Mitte").
Zu Beginn von Paraschat Nizawim [29:9] finden wir einen ähnlichen Gedanken: "Atem nizawim - Ihr alle steht heute ..." Raschi sagt, dass das jüdische Volk gerade die 98 Flüche gehört hatte (in Paraschat Ki Tawo) und "leichenblass wurde", da sie dachten: "Wie können wir das nur überleben?" Darauf sagte ihnen Mosche Rabbejnu (unser Lehrer): "Seid ohne Angst. Bereits früher schon habt ihr G'tt zornig gemacht und er hat euch vergeben. Keine Angst. Ihr steht heute alle hier ..." Ihr werdet nicht vernichtet werden. Genau wie er euch in der Vergangenheit vergeben hat, wird G'tt auch eure künftigen Sünden vergeben.
Mosche scheint kein guter Maggid Mussar (Moralprediger) zu sein. Nachdem er sie erfolgreich mit der furchterregenden Drohung der 98 Flüche aufgerüttelt hatte, stellt er nun die Wirkung dieses ganzen "Mussar Schmusses" (Moralpredigt) wieder in Frage, indem er ihnen sagt, dass sie darüber nicht allzu besorgt sein sollten.
Wie vorhin erwähnt, ist die Antwort darauf wie folgt: Wenn ein "Mussar Schmuss" die Menschen in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung treibt, hat er all das zunichte gemacht, was er eigentlich erreichen wollte. Der Kern der Teschuwa ist zwar Furcht, aber man muss auch gewahr sein, dass man nicht verloren ist. Es muss einem bewusst sein, dass "obwohl ich in der Vergangenheit Fehler gemacht habe, ist noch nichts verloren." Kreidebleich zu werden und zu sagen "G'tt ist nicht in unserer Mitte" ist kontraproduktiv und führt nicht zur gewünschten Teschuwa. Hoffnung gibt es nur, wenn wir wissen "heute steht ihr alle da vor G'tt" und "Vergebung liegt in Deiner Hand“; deshalb müssen wir uns fürchten.
Quellen und Persönlichkeiten:
1. Sefat Emet: Rabbi Jehuda Leib Alter (1847 – 1905); der zweite Gerrer Rebbe; Polen. Verfasser der bekannten Werke Sefat Emet zum Talmud und Erklärungen zum Chumasch.
2. Rav Elijahu Elieser Dessler (1892 - 1953) Homel (Russland), Kelm (Litauen), London, Gateshead (GB), Benej Berak, (Israel). War ein Rabbiner, Talmud-Gelehrter und jüdischer Philosoph. Er spielte eine bedeutende Rolle innerhalb der Mussar-Bewegung. Am Ende seines Lebens war er Maschgiach (geistiger Leiter) der Ponewischer Jeschiwa in Benej Berak. Verfasser des bekannten Werkes Michtaw meElijahu.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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